Album-Comeback

Jethro Tull: Alte Flöten trällern noch immer gut

Musik
27.01.2022 06:00

Ganze 23 Jahre liegen zwischen dem letzten offiziellen Studioalbum von Jethro Tull und dem dieser Tage erscheinenden Werk „The Zealot Gene“, womit Mastermind Ian Anderson sogar ABBA leichte Konkurrenz macht. Der 74-Jährige war aber freilich nie weg vom Fenster, sondern hat seine Kunst lieber als Soloprojekt definiert. Warum es dieses Mal anders kam, worum es auf dem 22. Studiowerk der Prog-Legende geht und wie sich dadurch vielleicht ein spätherbstliches, neues Bandkapitel auftut, darüber spricht der Schotte mit uns im Interview.

(Bild: kmm)

Zuckerbrot und Peitsche nennt sich das System, nachdem das streitbare Musik-Genius Ian Anderson gerne bei seinem Gegenüber vorgeht. Der Redakteur erinnert sich noch gerne an eine persönliche Begegnung mit dem wohl bekanntesten Rock-Flöter der Welt im Eisenstädter Hotel Burgenland. Jener Schreiber erdreistete sich, erst fünf Minuten vor dem vereinbarten Termin zu erscheinen und erhielt dafür gleich einmal eine fünfminütige Standpauke des Elder Statesman - das Flötensackerl fröhlich um die Schulter geschwungen. Als der erste Grant verraucht und die Melange auf dem Tisch war, glätteten sich die Wogen schnell und es entspann sich ein einstündiges Gespräch über Jethro Tull, den damals drohenden Brexit, Motorsport und die Probleme britischer Musiker mit dem Fiskus. Viereinhalb Jahre später gibt es pandemiebedingt ein neues Ferngespräch und dieses Mal verspätet sich der Star selbst um einige Minuten. Er habe wohl den Zoom-Talk mit einem Telefonat verwechselt. Kommt eben in den besten Häusern vor.

Alles Ansichtssache
Mit dem meinungsstarken 74-Jährigen lässt es sich noch immer vorzüglich diskutieren und wenn sich Mr. Anderson einmal in ein Thema verbeißt, dann werden Gesprächsausrichtung und Uhrzeit schnell einmal vergessen. Der mehr als freudige Anlass der Gegenwart ist ein brandneues Jethro-Tull-Album. Richtig gehört! 19 Jahre nach dem Weihnachtsalbum und ganze 23 Jahre nach dem letzten offiziellen Studioalbum „J-Tull Dot Com“ tatsächlich neuer Stoff. Die Zeitspanne zwischen zwei Alben von ABBA weggerechnet, ist die Veröffentlichung von „The Zealot Gene“ nun also schon jetzt eine der größten Sensationen des Jahres. Anderson revidiert erwartet schnell in aller Nüchternheit. „Ich war die letzten Jahre ja nicht untätig. Es gab diverse Soloalben, ein Album mit einem Streicherquartett, die Jethro-Tull-Biografie und ein Ian-Anderson-Textbuch. Man braucht gewisse Intervalle zwischen Projekten, aber es muss ja nicht auf jedem der Stempel der Band drauf sein.“

Doch wo liegt nun der Unterschied zwischen einem Tull- und einem Anderson-Album. „Rückblickend hätte ich mein 2014er Soloalbum ,Homo Erraticus‘ auch unter dem Banner Jethro Tull veröffentlichen sollen. Dieses Mal habe ich es so gemacht und damit die anderen Bandmitglieder belohnt. Wir spielen seit ca. 15 Jahren in derselben Besetzung zusammen, das ist das konstanteste Line-Up, das es je gab. Es war längst Zeit, ihnen damit zu beweisen, dass sie dazugehören und ihren Anteil geleistet haben.“ Ein Schelm, wer zusätzlich noch marketingtechnische Gründe dahinter vermutet… Wo Jethro Tull drauf steht, ist natürlich auch Jethro Tull drin. Anderson pflegt das Image des religiös angehauchten und mit einer Flöte über die Bühnen hüpfenden Sagenerzählers seit mehr als fünf Dekaden mit großem Erfolg. Zahlreiche Musikerleichen pflasterten dabei seinen Band-Weg, doch auch wenn er wenig von Teamwork und einer legeren Mitarbeiterführung hält, gibt ihm der Erfolg Recht. Alben wie „Aqualung“ oder „Thick As A Brick“ haben sich im Musikgedächtnis eingemauert. Ende der 70er-Jahre ging es damit in pompöse Hallen und heute tourt Anderson nach Möglichkeit als immer noch mitreißender Live-Act, der sich nicht nur in Nostalgie suhlen muss.

Verzwickte Lage
„Ich bin ein alter Mann, ungeduldig und habe nur noch wenig Zeit“, ärgert ihn die nicht enden wollende Pandemie, „das Unterwegssein ist für mich immer noch möglich, wenn die Reisestrapazen nicht zu hoch und die Tourneen nicht zu lang sind. Am liebsten wären mir jede Woche ein bis vier Konzerte und dann Pause. Ich schaffe noch immer 100 Konzerte pro Jahr, wenn mir dabei noch genug Zeit bleibt, so oft wie möglich im eigenen Bett zu schlafen.“ Die letzten zwei Jahre verbrachte Anderson, der sich auch beim Booking nicht ins System greifen lässt, die meiste Zeit damit, Flugtickets zu stornieren, Termine zu verschieben und Organisatorisches vor dem Laptop zu erledigen. „Das kostet mir alles viel Geld und viele Nerven. Die Lage ist aber verzwickt, ich sehe auch keinen Ausweg. Natürlich würde ich gerne auf die Bühne und so viel wie möglich spielen, aber ich gebe zu, ich würde mich derzeit auch nicht zu anderen ins Kino setzen. Man muss Geduld haben, aber diese Geduld wird weniger, wenn man merkt, wie schnell die Uhr tickt.“

An „The Zealot Gene“ schraubte Anderson knapp fünf Jahre, aber so sehr ihn die Livesituation stresst, so in sich ruhend verhält es sich bei ihm mit Studioalben. „Ich schrieb anfangs 15 Wörter unterschiedlicher menschlicher Emotionen auf ein leeres Blatt Papier. Es gab positive Begriffe wie Liebe, Passion, Loyalität und Gemeinschaft. Und dann auch negative wie Hass, Rache, Eifersucht und Wut. Ihnen allen war gemein, dass ich sie aus der Bibel kenne. Diese biblischen Referenzen behielt ich dann im Hinterkopf und sie bildeten das Album.“ „The Zealot Gene“ ist dezidiert nicht als Konzeptalbum zu verstehen, beinhaltet aber alle Stärken, die Jethro-Tull-Fans von ihrer Band lieben. Prog-Passagen, lyrische Gustostückerl, Flöteneinsätze, eingängige Melodien und rund zusammenfließende Soundbögen. Vielleicht nicht mehr so spannend und revolutionär wie auf den Klassikeralben in den 70er-Jahren, aber dafür mit einem modernen Klangbild veredelt. Der Großteil der Texte und der Musik stand schon vor der Pandemie, die letzten fünf Songs hat er - ganz wie früher - dann im Alleingang fertiggestellt. „Ich bekam von meinen Bandkollegen Audiofiles und habe sie im Mix verbraten. Durch Corona ging es dann am Ende nicht mehr anders.“

Kampf gegen den Fanatismus
Für Anderson wirft „The Zealot Gene“ ein Auge auf den Fanatismus, er uns allen von den zunehmend populistischen Politikern auf dieser Welt entgegenschwappt. „Es geht mitunter um die ganze Bösartigkeit, die Wut und den Narzissmus, der auf Social Media passiert“, führt das Mastermind aus, „ihr glaubt sicher alle, ich rede von Donald Trump, aber der ist doch längst nicht mehr der einzige. Es gibt so viele, die Menschen gegeneinander aufbringen und spalten. Wie immer habe ich diese Themen mit schwarzem Humor durchmischt.“ Das Fanatiker-Gen („The Zealot Gene“) tragen wir schließlich alle in uns, nur wächst es sich nicht bei jedem zu einer Hybris des Verderbens aus. Eine Lösung zwischen all den biblischen Referenzen und gesellschaftspolitischen Verwerfungen kann auch Anderson nicht anbieten, aber der Mann bleibt seinen Standpunkten treu und trägt seine Wut auf die Mechanismen dieser Welt auch mit Mitte 70 ungefiltert nach draußen. Im Fahrwasser des kompositorischen Eifers gibt es jetzt sogar Hoffnung auf mehr. „Ende März 2023 könnte das nächste Album fertig sein. Wenn mein Vorhaben aufgeht.“ Warten wir ab. Der Kurs stimmt jedenfalls.

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