„Krone“-Kolumne

Über Nähe und Distanz in Pandemie-Zeiten

Kolumnen
28.03.2021 05:55

Soziologin und Sexualpädagogin Barbara Rothmüller über die Prävention von Grenzüberschreitungen in der Pandemie. 

Zwei Drittel der 14- bis 29-Jährigen haben bei einer Befragung im Winter angegeben, dass sie während der Pandemie schon einmal mehr Nähe zugelassen haben, als sie eigentlich wollten. Um einen Konflikt zu vermeiden, tolerieren sie zum Beispiel eine Umarmung zur Begrüßung, obwohl sie sich damit nicht wohlfühlen. Menschen berichten davon, dass sie lächerlich gemacht werden, wenn sie zur Begrüßung keinen Körperkontakt möchten. Das ist alarmierend. Die Forschung zu (sexualisierter) Gewalt zeigt seit Jahren, dass Prävention im Kleinen beginnt. Menschen müssen ihrem Gespür für Nähe und Distanz vertrauen können. Fühlen Sie sich unwohl mit Nähe, ist das ein wichtiger Gradmesser, den man respektieren - und nicht ignorieren oder wegdiskutieren - sollte.

Natürlich hat die Pandemie die Nähe- und Distanz-Gefühle von sehr vielen Menschen durcheinandergebracht. Man weiß auf einmal nicht mehr so genau, wie man sich bei einer Begrüßung verhalten soll, wie viel Nähe einer Person angenehm ist oder wann sie sich davon bedroht fühlt. Viele Verhaltensweisen müssen nun explizit ausgehandelt und angesprochen werden. Aber vielleicht ist die Pandemie-Zeit auch genau deswegen eine ideale Gelegenheit, um darüber nachzudenken, wie ernst wir eigentlich unser eigenes Gefühl für Nähe und Distanz nehmen. Und wie gut wir bei anderen Menschen akzeptieren können, wenn diese vielleicht mehr Distanz als wir selbst brauchen, ohne uns davon gleich verletzt oder angegriffen zu fühlen.

Ein achtsamer Umgang mit den Intimitätsgrenzen von uns und anderen hat weitreichende Konsequenzen. Denn es gibt einen Zusammenhang zwischen Grenzüberschreitungen im Kleinen und manifesten Grenzverletzungen bzw. Übergriffen. Menschen, die in der Pandemie mehr Nähe zulassen (müssen) als sie eigentlich wollen, erleben dies auch bei sexuellen Aktivitäten häufiger. Zum Beispiel, dass ihre persönlichen Grenzen überschritten werden, wenn sie digitale Medien für Sexualität nutzen. Oder dass sie sich nach dem Versenden sexueller Bilder nicht mehr sicher sind, ob sie dem Empfänger vertrauen können. Jeder zehnte Befragte zwischen 14 und 20 Jahren hatte seit Beginn der Pandemie zumindest einmal Sex, nur weil sie oder er Angst davor hatte, Nein zu sagen. Diese Forschungsergebnisse sollten aufrütteln.

Eine wichtige Strategie gegen sexuelle Gewalt ist es, bereits sehr früh Kinder und Jugendliche zu ermutigen, ihr persönliches Gefühl für Grenzen zu entwickeln, zu spüren, ernst zu nehmen, und (im Idealfall) zu artikulieren. Genauso wichtig ist es, dass Kinder und Jugendliche lernen, die persönlichen Grenzen anderer Menschen ohne Diskussion zu respektieren. Und Kinder lernen an Vorbildern. Am respektvollen Umgang mit Nähe und Distanz in der Pandemie lässt sich bemessen, wie gut Erwachsene diese Vorbildfunktion für Kinder und Jugendliche überhaupt erfüllen können.

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Dr.in Barbara Rothmüller, Soziologin und Sexualpädagogin

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