„Krone“-Analyse

Sturm aufs Kapitol: „9/11“ gegen die Demokratie

Ausland
08.01.2021 06:00

Es hat doch eine gewisse innere Logik, dass Donald Trumps Präsidentschaft in diesem Desaster endet - dem Sturm auf das Heiligtum der US-Demokratie durch einen aufgehetzten Mob. Bilder, die man sonst nur aus anderen Teilen der Welt kennt.

Dieser Tag war das „9/11“ der amerikanischen Demokratie, eine Schandtat des eigenen Präsidenten. Zugleich haben sich aber auf groteske Weise die Sorgen der Gründerväter der USA bestätigt, nämlich in der komischen Wahlmänner-Wahl des Präsidenten: die Sorge vor der „Herrschaft der Straße“. Denn die USA sind als eine Rebellennation entstanden. 250 Jahre hatte die politische Elite in Washington dieses „andere Amerika“ im Zaum gehalten - bis so ein kranker Westentaschen-Mussolini kam und eine kranke Nation verführte.

Tag der Schande
An diesem Tag der Schande waren 100.000 Trump-Anhänger in die US-Hauptstadt geströmt - alle „blütenweiß“. Hier versammelten sich die Wutbürger jenes weißen Amerika, das seine Felle davonschwimmen sieht. Gerade an diesem Tag siegten zwei demokratische US-Senatoren in Georgia, dem einstigen Kernland der Südstaaten. So kündigt der demografische Wandel das Ende der weißen Hegemonie in der amerikanischen Gesellschaft an.

Hätten Schwarze, Hispanics oder andere ethnische Minderheiten das Kapitol stürmen wollen - es wären Panzer aufgefahren. Aber an diesem Tag gaben Kapitol-Polizisten den Weg an den Barrieren frei. (War es nur Unbeholfenheit in der Überraschung oder war es ein instinktives ethnisches Zusammengehörigkeitsgefühl?)

Politisches System angeschlagen
Vor drei Monaten noch hatten die Republikaner - die Partei der Weißen - beide höchsten Instanzen des Landes im „Besitz“: den Senat und das Weiße Haus. Nun haben sie beides verloren, und sie können sich dafür bei ihrem „Heiland“ bedanken, diesem Spalter der Nation.

Die Szenen am US-Kapitol waren das Schlimmste, was dem ohnehin angeschlagenen politischen System dieses Landes passieren konnte, aber auch dessen Spiegelbild: der Höhepunkt der Spaltung, die seit Jahrzehnten durch diese Gesellschaft geht und das politische Geschehen blockiert. Sonst wäre ja ein Trump gar nicht an die Macht gekommen.

Versöhnung wird zur „Mission Impossible“
Es steht zu befürchten, dass dieser dunkle Tag der USA nicht das Ende mit Schrecken, sondern erst der Anfang eines langen Kreuzwegs war. Die 74 Millionen Trump-Wähler - die größte Zahl, die jemals ein Wahlverlierer erhalten hat - werden Joe Biden durch die Hölle seiner Präsidentschaft jagen. Die Versöhnung der Nation ist auf absehbare Zeit eine „Mission Impossible“.

Was bedeutet diese amerikanische Tragödie für die freie Welt, deren Demokratien ebenfalls unter Druck stehen? Was bedeutet dieser Autoritätsverlust für die Sicherheit, wenn die (verblassende) Schutzmacht Wundmale eines „Failing State“ bloßlegt? Was mögen sich wohl die Feinde der Demokratie denken: die Putins, Xi Jinpings, Kim Jong Uns, Khameneis?

Wie geht es international weiter?
Die Gefahr wächst, dass sich Rivalen der USA zu einer Machtprobe verleiten lassen - ähnlich dem Raketenabenteuer des Sowjetführers Chrutschtschow in Kuba. Die Folgen blieben dann nicht nur auf die USA beschränkt, sondern die tragen wir alle. Jeder Schwächeanfall der USA macht die Welt unsicherer.

Wie ist es denn um Europa bestellt? Man braucht sich nur die Bilder anzuschauen, nämlich die Ähnlichkeit der Besetzer des Kapitols mit dem Protest-Biotop der Aluhüte, Verschwörungstheoretiker und Querdenker in unseren Breiten. Sie demonstrieren für die Freiheit, aber den Demagogen nachzulaufen hat noch nie zur Freiheit geführt, sondern nur in noch ärgere Zwänge.

Wenn Amerika aus dem Schock erwacht, wird es sich selbst Rechenschaft ablegen müssen. Was ist von dem „Leuchtturm der Freiheit“ geblieben? Die USA mit ihrem Doppelgesicht sind nach wie vor ein großes Land mit großen Fähigkeiten. Der aufgestaute Reformbedarf aus dem „amerikanischen Jahrhundert“ ist aber enorm. Ohne einen tiefgreifenden Wandel wird keine Erneuerung klappen.

An erster Stelle müsste der amerikanische Kapitalismus reformiert werden. Dieses System hat zu viele „Abgehängte“ produziert, deren Speerspitze die Mauern des Kapitols hochkletterte („Das ist unser Haus, das Haus des Volkes“), als gelte es, die Trutzburg einer reichen Elite zu erobern. Solange es keine Hoffnung gibt, wird es genügend Menschen geben, die solchen politischen „Jesse James“-Typen nachlaufen.

Kurt Seinitz, Kronen Zeitung

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