Spätestens seit dem Triumph von JJ beim Eurovision Song Contest weiß ganz Österreich, was ein Countertenor ist. Wenigstens so ungefähr. Die Sache ist nämlich einigermaßen kompliziert. Countertenöre sind männliche Sänger, die sich stimmlich im Alt- oder Sopranfach bewegen. Lagen, die normalerweise von Frauen oder Kindern gesungen werden. Doch mittels speziellen Falsett- und Kopfstimmen-Techniken, mitunter durch Brustresonanz verstärkt, vermögen auch die Herren der Schöpfung solche Höhen zu erreichen. Auf die Frage, wie ein Mann derart hoch singen kann, antwortete ESC-Sieger JJ lapidar: „Training“. Das Singen in höchsten Tönen lässt sich also erlernen.
Alte Praxis
In der Welt der Klassik ist Countertenor ein jahrhundertealtes, etabliertes Stimmfach. Countertenöre gab es bereits vor der Barockzeit, als Kastraten die Opernhäuser mit ihren virtuosen Sangeskünsten im Sturm eroberten. Kastraten, das waren junge Männer, die in der Pubertät ihrer Manneskraft beraubt wurden, um den Stimmbruch zu unterbinden und eine schöne Sopran- oder Alt-Stimme auch im Erwachsenenalter zu erhalten. Die aus heutiger Sicht unvorstellbar grausame Praxis ist mit Ende des 19. Jahrhunderts zum Glück aus der Mode gekommen. Später, als Musik aus dem Barock in den 1950er-Jahren eine Art Renaissance erlebte, übernahmen Countertenöre die Parts der Kastraten – wiewohl Fachleute betonen, dass sich die Stimmen von Kastraten und Countertenören in Klangfarbe, Volumen und Umfang doch erheblich unterscheiden.


Drei Schwestern, vier Männer
In den Konzertsälen dieser Welt hält der Boom rund um die Countertenöre nun schon seit Jahren an. Männer mit hohen Stimmen passen gut in eine Zeit, in der Gendergrenzen ins Schwimmen gekommen sind. Countertenöre werden im Zuge historischer Aufführungspraxis alter Musik ebenso besetzt wie im modernen Musiktheater. Viele zeitgenössische Komponisten schrieben explizit für Countertenöre. Auch in Peter Eötvös’ Oper „Drei Schwestern“ aus 1998, die bei den diesjährigen Festspielen, unter der Regie von Eugeny Titov, in einer Neuinszenierung zu sehen sein wird, treten Männer als Frauen auf. Die Rollen der drei Schwestern sowie Nataschas (deren Schwägerin) hat Eötvös mit Countertenören besetzt:
Der persisch-kanadische Countertenor Cameron Shahbazi, zu hören in der Rolle der Mascha, wurde bereits mit mehreren internationalen Auszeichnungen geehrt.
Aryeh Nussbaum Cohen (Olga) ist laut New York Times längst ein „junger Star“ und „kompletter Künstler“. Der 31-Jährige findet eine enge Verbindung zwischen den alten Musiktraditionen seines jüdischen Erbes und den Barockwerken, die einen Großteil seines Opernrepertoires ausmachen.
Kangmin Justin Kim (Natascha) ist einer der gefragtesten Sänger seiner Stimmlage und hat sich im Barockrepertoire, zeitgenössischer Musik und Mozart-Rollen weltweit einen Namen gemacht.
Der erst 24-jährige Sopranist Dennis Orellana schließlich schlüpft in die Rolle der jüngsten der drei Schwestern (Irina). „Sopranist“ ist eine spezielle Form des Countertenorfachs – viele Countertenöre sind in der Altlage zuhause, Sopranisten klettern die Tonleiter noch höher hinauf.
Die Oper „Drei Schwestern“ basiert auf dem berühmten gleichnamigen Theaterstück von Anton Tschechow – beschreitet aber doch ganz eigene Wege. Nicht alles, was Tschechows Figuren fühlen und denken, findet Ausdruck im gesprochenen Wort. Eötvös’ Musik interpretiert auch das Ungesagte, und wird so Tschechows psychologischer Vielschichtigkeit bewundernswert gerecht. „Ich komponiere, um den Zauber hörbar zu machen“, sagte der ungarische Maestro einmal. Für Intendant Markus Hinterhäuser ein Mitgrund, das hochkomplexe Werk auf den Spielplan zu setzen.