Höchst umstritten

Isländerin schrieb Buch mit ihrem Vergewaltiger

Ausland
23.03.2017 06:09

Es ist schon mehr als 20 Jahre her, dass Thordis Elva und Tom Stranger auf den Weihnachtsball von Thordis' Schule in der isländischen Hauptstadt Reykjavik gingen. Sie war 16, er, ein Austauschschüler aus Australien, zwei Jahre älter, beide seit einigen Wochen ein Paar. Dann - so erzählen es beide in dem eben erschienenen Buch "South of Forgiveness" - vergewaltigte er sie. Der gemeinsam verfasste Bericht sorgt für viel Aufsehen, aber auch Proteste.

Zwei Stunden lang dauerte das Martyrium für die damals 16-jährige Isländerin. Noch heute erinnert sie sich, wie sie auf der Digitalanzeige ihres Weckers die Sekunden herunterzählte. "Seit dieser Nacht weiß ich genau, dass zwei Stunden 7200 Sekunden haben." Zwei Tage später kam Tom noch einmal vorbei, um Schluss zu machen. Dann ging er nach Australien zurück. Thordis blieb auf ihrer Insel und behielt alles lange Zeit für sich. Zur Polizei ging sie nie.

"Ich wollte, dass er Verantwortung übernimmt"
Dass die beiden wieder miteinander in Kontakt kamen, liegt an Thordis Elva. Die Isländerin hatte nach Jahren der Selbstzweifel Karriere als Journalistin gemacht, sich auch mit dem Thema sexuelle Gewalt befasst. 2005 schrieb sie an Tom Stranger. "Ich wollte, dass er Verantwortung übernimmt. Ich hatte keine große Hoffnung, dass dabei etwas herauskommt. Aber ich musste das tun, für mich selbst."

Die Antwort-Mail kam schnell. Stranger gab zu, was er getan hatte, auch wenn er es anfangs noch nicht Vergewaltigung nannte. "Es ist ein dunkler Teil meiner Erinnerung. Ich habe versucht, ihn zu unterdrücken." Jahre später trafen sich die beiden auch: auf halber Strecke zwischen Island und Australien, im südafrikanischen Kapstadt. Die Aussprache dauerte eine Woche.

Stranger: "Glaubte damals, ein Bursch hat Recht auf Sex"
Elva traf auf einen Mann, der kaum etwas mit den Vorstellungen zu tun hat, die sich viele von Vergewaltigern machen. Stranger ist auch mit Ende 30 noch der Typ australischer Surfer, gut aussehend, braun gebrannt. Seine Version: "Ich dachte damals: Wenn ein Bursch mit einem Mädchen auf eine Party geht, hat er ein Recht darauf, Sex zu haben. Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, was ich angerichtet habe. Es war nichts anderes als Vergewaltigung."

Sie schildert die Dinge so: "Ich bin in einer Welt erzogen worden, in der Mädchen erzählt wurde, dass, wenn sie vergewaltigt werden, das seine Gründe hat. Weil ihr Rock zu kurz war, ihr Lachen zu breit, ihr Atem nach Alkohol roch. Ich hatte mich all dieser Dinge schuldig gemacht, also musste die Schuld bei mir liegen. Ich habe Jahre gebraucht, bis mir klar wurde, dass in dieser Nacht nur einer meine Vergewaltigung verhindert hätte: der Mann allein."

Autorin will dem "Monster-Mythos" entgegenwirken
So erzählen es die beiden jetzt auch gemeinsam. Elva sagt, ihr gehe es darum, dem "Monster-Mythos" entgegenzuwirken - Vergewaltiger könnten auch Leute von nebenan sein. Die Kernfrage: Hat sie vergeben? Die Antwort: "Ja, aber ..." "Die Leute denken immer, dass du dem Täter etwas gibst, wenn du ihm vergibst. Es ist genau das Gegenteil: Vergeben ist etwas für mich. Damit konnte ich Scham und Selbstmitleid loswerden, die mein Leben kaputtgemacht haben."

Im englischsprachigen Raum sorgte das Buch "South of Forgiveness" bereits für viel Aufsehen. Ein Internet-Video von einem gemeinsamen Auftritt in der kalifornischen Metropole San Francisco wurde mehr als 2,8 Millionen Mal geklickt. Soeben ist das Buch auch auf Deutsch unter dem Titel "Ich will dir in die Augen sehen" erschienen. Auf dem Umschlag stehen die Namen von Opfer und Täter, ihrer allerdings doppelt so groß.

Applaus und Ablehnung von Kritikern
Die öffentliche Meinung ist geteilt. Vom Publikum - die große Mehrheit immer Frauen - gibt es in der Regel Applaus. Viele werfen Elva aber vor, eine "Privatlösung" gefunden zu haben und dem Täter dann auch noch eine Bühne zu bieten. Die australische Frauenrechtlerin Josephine Cashman sagte etwa: "Ich kann nur jedem davon abraten. Wer vergewaltigt wird, soll zur Polizei."

Manche äußern auch Zweifel, ob sich alles so zugetragen hat. Tatsächlich wirken die Auftritte bisweilen sehr inszeniert. Aber die beiden beteuern, dass ihre Geschichte stimmt. Und wer sonst soll es wissen? Elva sagt zu der Kritik: "Ich predige überhaupt nicht, dass jemand ungestraft davonkommt. Ich bin einfach nur eine von Millionen, deren Fall durch die Raster der Justiz gefallen ist." Inzwischen ist er auch verjährt.

Stranger: "Ich will überhaupt keinen Profit daraus ziehen"
Mitautor Stranger verteidigt sich hingegen auch noch anders: "Ich will überhaupt keinen Profit daraus ziehen." Für die Auftritte bekomme er kein Geld, seine Einnahmen aus den Buchverkäufen will er spenden. Manchmal werden die beiden sogar für ein Paar gehalten. Aber Elva meint, sie und Stranger seien nicht einmal Freunde, "absolut nicht". "Wir sehen uns als Leute, die in einem Projekt zusammenarbeiten." Sie wohnt heute, wenn sie nicht auf Tour ist, mit Mann und kleinem Sohn in der schwedischen Hauptstadt Stockholm, Stranger lebt mit seiner Frau als Gärtner in Sydney.

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