Das Album „Artifact“ (Etage Noir Recordings), die Autobiografie „Trip“ (Edition a Verlag) und eine Dokumentation zum Entstehungsprozess der neuen Musik – Marcus Füreder aka Parov Stelar reflektiert sein Leben und erfindet sich neu. Im Zuge seiner Gastspiele im Wiener Konzerthaus sprach er mit der „Krone“ über seine Rekalibrierung, Motörhead, das Verschwimmen von Realität und Fiktion und Einbrecher in Spanien.
„Krone“: Marcus, das neue Album „Artifact“, eine Dokumentation dazu in Kino und Fernsehen und deine Autobiografie „Trip“ – du veröffentlichst dieser Tage Kunst und Kultur auf allen Plattformen. Wenn wir mit der Musik anfangen, dann muss man auch gleich dazu sagen, dass du dich deutlich vom erfolgreichen Electroswing wegbewegst. Ist das Album eine Zusammenstellung von Songs, die früher nicht reingepasst haben oder hast du bewusst anders komponiert?
Marcus Füreder/Parov Stelar: Die Kernarbeit an dem Album passierte in den letzten eineinhalb Jahren und in dieser Zeit entstanden gewisse Fragmente, wo ich wusste, sie würden nicht ganz zu Parov Stelar passen - unter Anführungszeichen. Irgendwann hat all das eine Eigeninitiative genommen und ich habe für mich beschlossen, dass ich einfach alles darf – ob das jetzt passen mag oder nicht.
Was war der ausschlaggebende Punkt dafür?
Es gibt Dinge im Leben, die regelt man nicht mit dem Verstand, sondern mit dem Gefühl. Wenn man Liebeskummer hat, soll man ja immer loslassen, aber der Verstand lässt das oft nicht zu – genauso ging es mir mit der Musik. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ich Musik völlig frei erschaffen kann. Wie vor 20 oder 25 Jahren, als alles losging. Diese unbändige Freude und Freiheit alles tun zu können, was man will, ohne auf irgendwas und irgendwen Rücksicht nehmen zu müssen. Die Rücksicht ist der Hund vom Erfolg. Wenn man einmal Erfolg hat, wird einem irgendwann klar, warum und womit. Sich davon zu befreien, wird schwierig, weil du denkst, du wärst in der Verantwortung, Erwartungshaltungen zu erfüllen. Plötzlich fragen Leute bei jedem neuen Lied: „Glaubst du, das wird ein Erfolg?“ Das neue Album ist für mich einer der größten Erfolge meines Lebens, weil ich noch nie so eine Freiheit verspürt habe.
Erfolg definierst du heute wahrscheinlich auch ganz anders als vor 20 Jahren. Lässt er sich immer in Zahlen gießen oder geht es dabei um etwas ganz anderes?
Am Beginn hieß Erfolg für mich, ich kann von der Musik leben. Ich kann jeden Tag ausschlafen und habe keinen Chef, der mir sagt, was ich zu tun habe. Heute ist für mich Erfolg die Kraft zu finden, sich gegen eigene Grenzen aufzulehnen und sie zu durchbrechen - und das mit Leichtigkeit. Ich habe bei dem Album so vor mich dahin komponiert und plötzlich stand ein 34-köpfiges Orchester im Linzer Brucknerhaus. Ein Teil griff scheinbar mühelos ins andere und plötzlich machte alles Sinn.
Was war denn die Ur-Idee, die zu „Artifact“ führte? Gab es eine bestimmte Nummer, mit der die Reise ihren Anfang nahm?
Das war der Song „Six Feet Underground“. Ich bin ein Riesenfan von Filmmusik und konnte damit etwas Cineastisches transportieren. Dann habe ich meine Kontakte aktiviert und kam drauf, dass sich Lana Del Rey gut vorstellen konnte, am Album dabei zu sein. Ihr Team hat mir dann die ganzen Hits wie „Video Games“ geschickt, aber genau das wollte ich nicht. Ich wollte die Stimme von einem Song, der unbekannt ist, was dann zu „Art Deco“ führte. Durch diese zwei Lieder ergaben sich für mich ein Filmthema und die Richtung gen 80er-Synthie-Sounds. So ging es los.
Die Songs sind zuweilen sehr ungezügelt, manchmal erinnert mich die Elektronik in ihrer Melancholie auch an Florence + The Machine. Ist die Freude über die künstlerische Freiheit so groß, dass du über einen eventuellen kommerziellen Misserfolg hinwegschauen könntest?
Ich würde lügen, wenn ich sage, mir ist völlig egal, ob die Leute diese Musik interessiert oder nicht. Natürlich ist man nervös, ob dieser neue Sound ankommt oder nicht. Die primäre Kraft hinter dem Album war aber, die Musik für mich zu machen und nicht für die Hörer da draußen. Erst ab dem Zeitpunkt, an dem ich zufrieden bin, kann ich auch andere davon überzeugen. An ein klassisches Electroswing-Album habe ich nicht geglaubt, damit hätte ich nur verlieren können.
Hast du dich selbst auf deinem Weg schon mal verloren, weil du zu stark äußeren Erwartungen gefolgt bist?
Definitiv, das ist immer wieder passiert und davon kann jeder Künstler ein Lied singen. Der Zug fährt oft schnell und du merkst erst in der Rückschau, ob er entgleist ist. Dann siehst du Elemente, die dir gar nicht entsprochen haben oder man ging zu sehr auf Nummer sicher. Das ist mir öfters passiert, aber das Gute am Älterwerden ist, dass man dadurch bewusster wird. Der Startpunkt zu „Artifact“ war, dass ich mir überlegt habe, welche Musik ich gerne hören würde. Und dazu mache ich das Album.
Auch wenn die Kernarbeit recht kurzfristig passiert ist, Ideen und Songskizzen zu „Artifact“ reichen viele Jahre bis vor Corona zurück. Waren das alles einzelne Lieder und Stückwerke, die sich irgendwann erst zu einem großen Ganzen verbunden haben?
Anfangs gibt es herumflatternde Fragmente. Du produzierst dahin, alles geht immer schneller, wird dichter und komprimierter. Plötzlich hatte ich das Orchester gebucht, es gab damit neuen Input und die Richtung hat sich wieder neu ergeben. Plötzlich fühlte ich mich selbst wie ein Passagier und das hat mir großen Spaß gemacht. Wenn ich bislang ein Album abgeschlossen habe, war es irgendwann draußen und es hat mich nicht mehr interessiert. Mit „Artifact“ beschäftige ich mich aber fortlaufend – irgendwas berührt mich daran noch immer.
Ist „Artifact“ der Startschuss zu einer neuen musikalischen Identität oder nur ein kurzfristiger, motivierter Schlenker nach außen?
Ich habe in meinem Leben einen Haufen verschiedener Projekte gemacht und wenn man sich damit ein bisschen beschäftigt hat, was ich so produzierte, dann kommt diese Ausrichtung gar nicht mehr so überraschend. Was die Zukunft bringt, weiß ich nicht und ganz ehrlich interessieren mich meine alten Sachen nach wie vor. Momentan bin ich aber voll in „Artifact“ drinnen. Ich würde zum Beispiel gerne mit einem großen Orchester auf Tour gehen. Vielleicht ist mir dann aber auch fad und ich will wieder voll in den Electroswing – es kann alles passieren.
Du hast im Laufe deiner Karriere die größten Bühnen und Festivals der Welt bespielt. Schwang da auch der Gedanke mit, dass man sich auch in einem Livesetting anders motivieren muss, weil man schon so viel gesehen und erlebt hat?
Natürlich, das ist auch ein Thema. In der Musikbranche hat sich alles verändert. Durch Spotify soll es keine langen Intros geben, die Refrains müssen zum Punkt kommen, alles soll genießbar sein – ich habe jetzt genau das Gegenteil gemacht und das fühlt sich wie eine Befreiung an. Vielleicht fühlen Leute heute die Musik anders als ich früher und jetzt mit meinen 50 Jahren, aber ich kann gar nicht anders, als Dinge so zu tun, wie ich sie tue.
„Artifact“ ist ein Album im besten Sinne. Es gibt ein Intro, es gibt Übergänge, es gibt Interludes – steckte dahinter eine gewisse Art des Konzepts?
Nein, denn ich bin überhaupt kein Fan von Konzeptalben. Hinter denen steckt immer ein Plan und es entsteht verkopft – dafür bin ich als Typ und Komponist viel zu emotional. Ich denke beim Musikmachen nie mit dem Kopf, nach einer gewissen Zeit fällt einem das leichter. Was kann dir denn als Künstler passieren? Das Gefährlichste und Risikoreichste ist, wenn ein Künstler nicht mehr seinem Drang zum Experimentieren nachgeht. Das ist die Ur-Essenz von allem. Bei „Artifact“ geht es um das Unbekannte, das trotzdem irgendwie vertraut wirkt. Es geht um andere Realitäten und Parallelwelten. Um die Frage, ob die Welt real ist, in der wir uns befinden – und genauso habe ich meinen Erfolg hinterfragt. Ist er real? Was bedeutet er eigentlich? Aus künstlerischer Sicht würde ich Erfolg als sehr gefährlich einschätzen.
Hat dich der Erfolg verändert? Und bist du von dieser Veränderung wieder irgendwann zurückgekommen?
Definitiv. Ich habe wohl alle Stadien, die der Erfolg an Begleiterscheinungen und Nebenwirkungen mit sich bringt, durchlaufen und mich über die Exzesse wieder zurückbesinnen müssen. Zum Glück war ich immer recht geerdet, aber nichtsdestotrotz ist der Erfolg ein unfassbar großer Verführer, der dich schnell auf falsche Wege bringt. Irgendwann verliert man dabei das Prinzip des Musikmachens aus den Augen – nämlich Musik deshalb zu machen, um etwas Kreatives zu schaffen. Die Kunst, um der Kunst willen. Der Erfolg redet immer von der Seite mit und sagt dir, wenn du das oder das machst, wird es schlecht für dich sein. Plötzlich verwässern sich Dinge – das habe ich alles ausgeschaltet.
Andererseits gibt dir Erfolg die Freiheit, leichter die Kunst umzusetzen, die du umsetzen möchtest. Man ist monetär freier, hat schon einen gewissen Bekanntheitsgrad und muss nichts mehr beweisen.
Oder es ist umgekehrt. Ab dem Zeitpunkt, wo du nicht mehr erfolgreich bist, hast du nichts zu verlieren. Wenn du erfolgreich bist und für etwas stehst, hast du immer was zu verlieren. Aus dieser Perspektive heraus ist es risikoreich, Dinge umzusetzen. Bei mir kam dann einfach emotional der Punkt, an dem ich das Gefühl hatte, nichts zu verlieren zu haben. Selbst wenn das Album nicht gut ankommt - was wird passieren? Ich bin dann noch immer Marcus und habe den unstillbaren Hunger, etwas zu kreieren. Mein musikalischer Fingerprint auf der Musikweltkarte ist für immer da – ich will mich dafür nicht verraten.
Hast du dir Marcus Füreder immer erhalten oder verschwand er hinter der erfolgreichen Figur Parov Stelar?
Ich hatte natürlich meine Ups und Downs, die teilweise schwer waren, aber Marcus und Parov waren schon immer miteinander verschmolzen. Ich habe mir immer eine gewisse Treue behalten. Lady Gaga zum Beispiel muss sich immer in eine andere Rolle begeben, was ich mir auf Dauer sehr anstrengend vorstelle. Dahingehend bin ich mir selbst immer relativ authentisch geblieben.
Gab es vor dem Prozess zu „Artifact“ Momente in deinem Leben, wo du Angst hattest, die Kunst des Experimentierens verloren zu haben? Hast du dich mal zu sehr auf Erfolg und Ruhm und zu wenig auf das Musizieren konzentriert?
Vor einigen Jahren haben alle großen Majorlabels dieser Welt bei mir angeklopft und die stellen einem natürlich Dinge in Aussicht, die weit über gewohnte Möglichkeiten als Independent-Künstler hinausgehen. Wenn direkt aus den USA Angebote kommen, wirkt plötzlich auch der europäische Markt sehr klein. Man muss schon ein extrem standhafter und idealistischer Mensch sein, wenn man da alles ablehnt. Ich habe mir alles angeschaut und angehört, aber dass ich künstlerisch immer ein sturer Hund war, war mein Glück. Diese Leute verstehen, wie die Musikindustrie funktioniert, mich aber interessiert die Musik. Wenn du in der Industrie mitspielen willst, musst du gewisse Spielregeln einhalten und das war nie so mein Ding. Ich will jetzt nicht den Hype um Taylor Swift werten, aber die Größe dieser Künstlerin ist mir ein Rätsel. Da spielen 100 Millionen Mechanismen mit, die mit der Kunst an sich nichts zu tun haben. Vielleicht war sie sogar eine richtig gute Künstlerin, bevor sie zu dieser großen Pop-Ikone wurde? Ich wollte nie, dass ein ganzes Team um mich herum alles entscheidet. Der grässliche Selbstoptimierungswahn hat auch in der Musik Einzug gehalten. Ich bin lieber dort nicht stattfindender Biertrinker.
Haben noch andere Parameter zu deiner musikalischen Wandlung geführt? Du hast eine Scheidung hinter dir, lebst wieder hauptsächlich am Linzer Pöstlingberg und nicht mehr hauptsächlich in Spanien – sind das alles Dinge, die zur Rekalibrierung führten?
Jedes Werk eines Musikers ist im weitesten Sinne autobiografisch oder spiegelt das wider, wofür er im Moment steht. Wenn ich mir mein letztes Album „Moonlight Love Affair“ heute anhöre, dann wirkt es irgendwie unfertig. Es ist nicht schlecht, aber die Zerrissenheit nach meiner Scheidung hört man heraus. Man spürt, dass rundherum nicht alles rund gelaufen ist. „Artifact“ war etwas Neues, ein Startschuss. Und jedem Beginn steckt ein Zauber inne.
Den Zauber spürst du noch immer? Was für deine Fans und Hörer neu ist, ist für dich als Erschaffer dieser Lieder schon wieder ziemlich lange her …
Das ist dieses komische Gefühl, dass ich noch bei keinem Album hatte. Es ist noch immer sehr gegenwärtig und spannend für mich. Das Album zu machen war so, wie wenn ein kleines Kind ein Lego-Raumschiff zusammenbaut. Der Produktionsprozess war irrsinnig anstrengend und ich bin sehr tief in die Materie reingegangen. Teilweise habe ich 20 Stunden produziert und noch immer nicht aufgehört. Als ich schlafen gehen wollte, bin ich noch kurz ins Atelier, um Skizzen für die visuelle Umsetzung zu machen. Der ganze Prozess war wie ein einziger Rausch. Ich wusste, ich muss mich total in diese Welt begeben. Warum sind so viele Streetworker früher selbst Junkies gewesen? Weil sie dadurch verstehen, wie sie wirklich helfen können. Ich habe mich komplett fallen lassen.
Das klingt nach einer kräftigen Portion manischem Wahnsinn.
Ohne eine gewisse Portion Wahnsinn bist du in unserer Branche langweilig. Interessant bist du, wenn du für eine gewisse Zeit lang die Kontrolle verlierst. Die richtige Mischung zwischen Wahnsinn und Kontrolle schaffen nur wenige – vielleicht Dave Grohl von den Foo Fighters. Ich erinnere mich auch daran, dass Lemmy Kilmister von Motörhead bei einem seiner letzten Konzerte neben uns den Backstagebereich hatte. Der war wahnsinnig, aber wusste immer genau, was er tut. Er war total in seiner Welt. Er konnte damals schon nur noch am Stock gehen, aber je näher er der Bühne kam, umso aufrechter ging er. Er hat sich zuletzt im Spiegel gesehen und wusste, er hat genau das gemacht, was er immer wollte. Und dieses Gefühl habe ich gerade auch.
Kilmister hat seine Karriere gelebt und geatmet und war immer zu 100 Prozent authentisch. War das auch dein Ziel, mit Album, Buch und der TV-Dokumentation? So unverfälscht wie nie zuvor zu sein?
Die Frage kann ich leicht mit Ja beantworten. Ich habe in meinem Leben so viele Dinge abgesagt, die meiner Karriere dienlich gewesen wären. Meist aus dem Grund, dass ich es nicht gespürt und gefühlt habe. Ich weiß noch, als Avicii mit „Wake Me Up“ auf seinem Höhepunkt war, bekam ich einen Song von ihm angeboten, aber ich konnte damit nichts anfangen. Es hat einfach nicht gepasst. Ich konnte diesem Song nichts mehr geben und da hilft mir das Namedropping allein auch nichts.
War dein Bauchgefühl immer gut zu dir?
Das Bauchgefühl war immer richtig. Es war der Verstand, der mir oft einen Strich durch die Rechnung gemacht hat.
Weil du den Verstand über dein Bauchgefühl hast obsiegen lassen?
Durchaus. Sobald zu viel Verstand im Spiel ist, verwässert sich das Ziel und man spürt das dann auch. Im legendären Buch „Bushidō“ steht, man müsse all seine Entscheidungen im Leben innerhalb von sieben Atemzügen fällen.
Den Verstand auszuschalten, kann gerade in der Musikindustrie fatal sein. Es gibt zig Geschichten von Künstlern, die jahre- oder jahrzehntelang über den Tisch gezogen wurden, weil sie sich nur auf den Bauch verlassen haben.
In der Musikindustrie arbeiten ganz andere Menschen als in der Musik. Sie sind sehr stark im Verstand und trotzdem so weit im Gefühl, dass sie mit ihrem Verstand das Gefühl der anderen verstehen und nachvollziehen können. Dann wird es gefährlich.
Du hast zum Album irrsinnig viele Videos gedreht und dabei sehr stark mit KI gearbeitet - der derzeit größte Gegner vieler Kunstschaffender. Für dich ist sie offensichtlich ein Verbündeter?
Weder noch. Es wird sehr schnell pauschal gesagt, dass die KI der Gegner der Kunstschaffenden ist. Ich sehe sie auch sehr kritisch, aber KI ist ja nicht gleich KI und man kann sie gut als Werkzeug einsetzen. Das wäre so, als würde man von Fernsehen allgemein oder den Medien allgemein reden – ein schwieriges Feld. Die Büchse der Pandora ist geöffnet, das ist Fakt, und wir werden sie nicht mehr zukriegen. Die Frage ist jetzt also - wo gehen wir damit hin? Wenn wir es kritisch sehen, bewegen wir uns stark in Richtung Realitäts- und Kulturverlust. Als ich vor 30 Jahren mit Grafikdesign begonnen habe, war es schon ein Wahnsinn, was mit Photoshop und allen möglichen Filtern möglich war. Jeder Fotograf hat in der Postproduktion Photoshop benützt und schon da stellte sich die Frage, wie real die Fotos noch sind. Es hat sich dann gut eingependelt und ich hoffe, das passiert auch mit der KI.
Als elektronische Band wird es wahrscheinlich schwieriger werden, sich von guter KI-Musik zu unterscheiden wie als Schrumpel-Punkband im Untergrund. Die Leute wollen Imperfektion bei handgemachter Musik – ist dem bei der Elektronik aber auch so?
Diese Schrumpel-Punkband macht ihre Musikvideos aber wahrscheinlich auch mit der KI – da haben sich die Grenzen schon längst verschoben. Die KI kann auch bewusst imperfekt sein. Ich habe für meine Videos mit rund 1500 Einzelbildern gearbeitet, die dann animiert wurden. Es gibt mittlerweile so viele Abstufungen in der KI, dass man nichts mehr pauschal beurteilen kann. Die alten „Star Wars“-Filme hatten Ende der 70er-Jahre Special Effects, die eine Realität vorgegaukelt haben und das fanden alle geil – niemand regte sich darüber auf. So wie bei „Star Wars“ ein Raumschiff eingesetzt wurde, habe ich versucht, in meinen Videos Stilelemente einzusetzen. Ich nütze die Technik, um die Geschichten in meinen Kopf bildlich und visuell umsetzen zu können.
Der Zwiespalt zwischen Realität und Fiktion ist ein wichtiger Bestandteil der gesamten Erzählung deines „Artifact“-Albums.
Genau, deshalb gibt es auch diesen Bruch, der für mich so spannend ist. Auf der einen Seite arbeite ich mit der KI, auf der anderen mit einem riesigen Orchester im Brucknerhaus, wo ich eine Violinistin aus Paris eingeflogen habe und ein paar Wiener Philharmoniker dabei waren. Wir haben das völlig oldschool mit Mikros aufgenommen. Die Vermischung der zwei Welten hat mich schon beim Electroswing interessiert. Auf der einen Seite Techno mit House-Beats, auf der anderen die alten Jazzplatten. Ich will mich den neuen Medien nicht versperren, sondern probieren und schauen, was dabei rauskommt.
Man muss oder kann sich mit allem arrangieren – man entkommt den Veränderungen aber nicht.
Ich kann natürlich stehen bleiben und auf meine Ansichten beharren, aber die Welt um mich herum dreht sich trotzdem weiter. Wenn wir alle Entwicklungen verschlafen und ignorieren, dann sind wir bei den Amish, die in ihrer Entwicklung nicht über 1910 hinausgehen wollen. Als ich mal in Ohio spielte, sind wir aufs Land gefahren und da hat ein Amish einen Laubbläser verwendet. Wie geht das bitte? Er meint, er hätte eine Dampfmaschine dort reingebaut – schon ein bisschen pervers.
Siehst du dich ein bisschen als einen analogen Bewahrer in einer zunehmend digitalen Welt?
Das wird das Publikum entscheiden. Ich sehe es aber nicht als meinen vorrangigen Auftrag, sondern finde es schlichtweg spannend. Ich bin ein großer Nostalgiker und habe vielleicht mal in einer anderen Welt gelebt. Mir taugt zum Beispiel eine Serie wie „Babylon Berlin“ und habe viele Romane gelesen über das Kino von Fritz Lang oder Ernst Lubitsch. Es waren die deutschsprachigen Emigranten, die das heutige Hollywood erfunden haben. Ich war davon so inspiriert, dass „Artifact“ in seiner visuellen und auditiven Umsetzung sehr stark daran angelehnt ist.
Wird der visuelle Aspekt zu deiner Musik immer wichtiger?
In diesem Fall ja, aber das lag auch daran, dass ich die Thematik gut dafür nützen konnte. Ich habe immer gerne Musikvideos gedreht, aber wenn du international vorne mitspielen möchtest, musst du unfassbar viel Geld in die Hand nehmen.
Erkennt man das Wesen und Leben von Parov Stelar vollständig, wenn man sich das neue Album anhört, das Buch liest und die Dokumentation sieht?
Das Buch ist im Endeffekt die Vorgeschichte zum Album. Im Buch hört die Geschichte quasi dort auf, wo sie am Album beginnt. Von außen betrachtet klingt das nach einem total ausgefeilten Masterplan, aber die Umstände sind gut zusammengefallen und alles ist einfach so passiert. Vor einigen Jahren trat schon mal ein Verlag an mich ran und wollte eine Biografie schreiben, aber ich war damals nicht so ganz davon überzeugt. Dieses Mal kam es ganz zufällig dazu. Ich war gerade bei meinem Haus in Spanien und dort habe ich ein großes Waldstück. Plötzlich sah ich einen Einbrecher am Grundstück. Ich mache Kampfsport, nahm also meinen Stock und habe überlegt, wie ich die Situation lösen sollte. In dem Moment läutete das Telefon, ich hob ab und der Verlag Edition a war dran und fragte, ob wir ein Buch schreiben wollen. Ich sagte, der Moment wäre gerade ungünstig, aber diese Geschichte gerade wäre ein tolles erstes Kapitel. Wenn ich das überlebe, dann melde ich mich wieder bei euch – sagte ich vor dem Auflegen. So kam das eine zum anderen.
Und was ist nun mit der Einbrecher-Geschichte passiert?
Mein Kampfsporttrainer aus Mallorca hat gute Kontakte zur Polizei und er hat derweil die Guardia Civil gerufen, die haben ihn dann festgenommen, während mein Adrenalin ganz oben war und ich mir überlegte, wie ich die Situation lösen könnte. Am Abend, als sich alles lockerte, musste ich darüber lachen. Das glaubt mir doch kein Mensch.
Wie wirst du „Artifact“ künftig eigentlich live präsentieren? Das Werk schreit ja danach, möglichst nicht zu sehr mit deiner Electroswing-Vergangenheit kombiniert zu werden.
Jein, als wir spielen sicher Teile von früher, die gut reinpassen, aber mir ist das Projekt auch zu wichtig, um es zu mischen. Halb Elektro- und halb Verbrennermotorantrieb geht sich in dem Fall nicht für mich aus. (lacht) Gedanklich sind wir schon in der Vorbereitung auf die Tour und ich würde sehr gerne mit großem Orchester unterwegs sein. Das wird dann zwar nicht die große Tanzveranstaltung, aber etwas Ähnliches. Die Umsetzung wird nicht billig und Sponsoren können sich gerne melden. (lacht)
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