Russische Beamtin:

Menschen „tanzen“ in Grenzregionen auf Knochen

Außenpolitik
20.09.2025 22:24

In den russischen Grenzregionen ist der Krieg längst Alltag: Drohnen und Raketen schlagen ein, Befestigungsanlagen werden errichtet und für den Kreml unbequeme Beamte in die Strafkolonie gesperrt. Doch auch jene, die zum Beamten-Apparat zählen und sich eigentlich die Rosinen herauspicken können, stöhnen und ächzen. Sie teilen die Begeisterung der Staatspropaganda nicht und beweisen, dass Schweigen nicht immer ein Zeichen der Zustimmung ist.

Aus dem zunehmend abgeschirmten Russland dringen mittlerweile kaum noch unabhängige Informationen nach außen – für deren Weitergabe drohen schlimme Repressalien, „echter“ Journalismus gilt dort als so gut wie ausgerottet. Die auf investigative Recherchen spezialisierte Internetzeitung „The Insider“, die zum Teil Kooperationen mit dem Netzwerk „Bellingcat“ durchführt, konnte dennoch einige Russen für eine Stellungnahme erreichen. Aus Sicherheitsgründen wurden die Schilderungen anonym veröffentlicht.

„In unserem System hat es von Anfang an niemanden mit einem optimistischen Blick auf das Ganze gegeben. Bereits im Februar 2022 war allen klar, dass es beschissen werden würde“, gestand ein Polizist aus der Oblast Woronesch.

Die russische Polizei und die „Begnadigungen“
Im vergangenen Jahr habe es Gerüchte gegeben, dass die Polizei Pläne zur Rekrutierung von Verdächtigen für die Armee erhalten habe. Die Beamten hätten diese Personen davon überzeugen sollen, sich freiwillig zu melden, dann wäre das Strafverfahren eingestellt. „Ich persönlich zwinge niemanden, zum Heer zu gehen. Ich sage ihnen nur, dass es die Möglichkeit gibt und mache immer klar: Nach dem Absitzen der Haftstrafe seien sie wieder frei, im anderen Fall sei ihre Rückkehr ungewiss“, so der Polizist. Normalerweise unterschreibe dann niemand.

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Ich kenne konkrete Beispiele, bei denen Kriminelle dieses ganze Verfahren mehrmals durchlaufen haben. Sie wurden in den Krieg geschickt, begnadigt und gerieten dann erneut mit dem Gesetz in Konflikt. Dann wurden sie erneut begnadigt, zogen wieder in den Krieg und so fort. Das ging so lange, bis sie in zwei Hälften zerrissen wurden.

Russischer Polizist

Bei manchen Verbrechern sei jedoch ein regelrechter Verhaftungs-Begnadigungs-Zyklus zu beobachten. „Ich kenne konkrete Beispiele, bei denen Kriminelle dieses ganze Verfahren mehrmals durchlaufen haben. Sie wurden in den Krieg geschickt, begnadigt und gerieten dann erneut mit dem Gesetz in Konflikt. Dann wurden sie erneut begnadigt, zogen wieder in den Krieg und so fort. Das ging so lange, bis sie in zwei Hälften zerrissen wurden.“

Die Polizei müsse auch dann zu den Tatorten ausrücken, wenn es gerade Beschuss oder Drohnenangriffe gebe. „Wir sollen mit Helmen zum Dienst antreten, aber die trägt niemand mehr. Alle schleppen sich in kugelsicheren Westen durch die Gegend“, plauderte der Polizist aus dem Nähkästchen.

Oberste Devise: Die Menschen vom Krieg ablenken
Auch in den Reihen der Belgoroder Stadtregierung brodelt es. „Ich glaube, dass in allen Organisationen, Regierungsstrukturen, in jeder russischen Stadt und Region das gleiche verdammte Chaos herrscht“, gibt ein verärgerter Beamter zu Protokoll.

Um die Menschen vom Krieg abzulenken, würden in der Region weiterhin Tulpenbeete angelegt, Festivals und Konzerte veranstaltet. Als am 24. Februar 2022 das Blutvergießen begann, seien im Morgengrauen alle weinend auf ihren Balkonen gestanden. Die Russen hätten beobachtet, wie Raketen in der ukrainischen Stadt Charkiw einschlugen. Auf eine offizielle Reaktion hätten sie vergeblich gewartet.

Auf dem Bild ist ein Drohnenangriff auf Krasnodar zu sehen.
Auf dem Bild ist ein Drohnenangriff auf Krasnodar zu sehen.(Bild: RBC_ua_news)

Verdutzt seien zunächst alle am Vormittag in Warteschlagen an Tankstellen und Geldautomaten gestanden. Nach dem Mittagessen habe das propagandistische „Hurra“ begonnen. Mit den Angriffen auf die Grenzregionen sei die Euphorie jedoch rasch wieder verstummt.

Innerhalb des Systems beobachtet der Beamte eine Phase der Gleichgültigkeit: „Die Chefs haben sich damit abgefunden, dass alles auf die unerwartetste und traurigste Weise enden kann. Weder bei der Arbeit noch im privaten Kreis würde über den Krieg gesprochen, auch unter Verwandten gebe es keine Streitereien mehr: „Allen ist alles klar und man kann niemanden mehr umstimmen.“ Die Unternehmen stünden am Rande des Abgrunds. Niemand wisse, wo man den Rotstift noch ansetzen könne. „Nichts hat man in den letzten dreieinhalb Jahren unternommen – außer, dass Männer aus ihren Familien gerissen wurden“, lautet sein trauriges Fazit.

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Als die Verantwortlichen in den Kommentaren gefragt wurden, wie die Menschen darauf (Anm.: ein neues Riesenrad) fahren sollen, wenn die Stadt unter Beschuss steht, gaben sie an, dass das Rad während eines Luftalarms beschleunigt werden würde. Offensichtlich, um den Nervenkitzel zu steigern.

Russische Beamtin

Davon, dass auch die privilegiertere Schicht in Russland nicht vor den ukrainischen Angriffen sicher ist, kann eine Mitarbeiterin der Belgoroder Stadtverwaltung ein Lied singen. „Zwar sind die Raketenangriffe in den letzten Monaten deutlich zurückgegangen, Gott sei Dank, aber jetzt gibt es so viele Drohnen“, berichtet sie. Diese seien bereits im Bezirksgericht eingeschlagen und hätten einen Vorsitzenden verletzt. Vor Kurzem sei angeblich eine Drohne beinahe ins Büro des Gouverneurs geflogen.

Auch das Antlitz der Stadt habe sich in den letzten Jahren verändert. Merkwürdige Gestalten streiften durch die Straßen, die Gehsteige seien vermüllt und Asphaltstücke fehlten. „Die Leute weinen, wie schön unsere Stadt war. Aber sie wollen nicht darüber nachdenken, warum es so gekommen ist“, zeigt sich die Russin ernüchtert.

Kreml macht gute Miene zum bösen Spiel
Die Führung mache ständig gute Miene zum bösen Spiel: Riesige Veranstaltungen und Konzerte würden organisiert. Für die Einwohner seien das jedoch nur „Tänze auf Knochen“ – „wenn in der Tankstelle daneben eine Drohne einschlägt, mehrere Menschen sterben und hier ein Orchester spielt – die Menschen sehen das alles“, erzählt die Belgoroder Beamtin.

Als weiteres Ablenkungsmanöver würden ununterbrochen gewaltige Bauvorhaben durchgeführt. Rund um das neue Riesenrad an der Uferpromenade sei ein regelrechter Skandal entbrannt: „Als die Verantwortlichen in den Kommentaren gefragt wurden, wie die Menschen darauf fahren sollen, wenn die Stadt unter Beschuss steht, gaben sie an, dass das Rad während eines Luftalarms beschleunigt werden würde. Offensichtlich, um den Nervenkitzel zu steigern.“

Bei dem herrschenden Chaos würden nun alle darauf warten, dass sich irgendwann alles wieder lege. „Dass alle Beamten den Krieg unterstützen, ist von Anfang an eine Lüge. Der Präsident (Wladimir Putin, Anm.) sprach von „Bewegung“, von Langeweile, und ich habe das Gefühl, dass er der Einzige ist, dem das alles gefällt. Er lebt wohl in seiner eigenen Realität“, lautet die mutige Kritik.

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