Neuer NATO-Plan
Moore als nasse Bollwerke gegen russische Panzer
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, inzwischen im dritten Jahr, hat die sicherheitspolitische Realität Europas grundlegend verändert. Während die EU ihre Verteidigungsstrategie neu denkt, rücken neben klassischen militärischen Maßnahmen auch unerwartete Vorschläge in den Vordergrund.
Einer davon: die Wiedervernässung entwässerter Moore und Feuchtgebiete. Denn wo das Wasser steht, stecken Panzer fest. Was Soldaten bremst, schützt zugleich das Klima.
„Das war in der Kriegsgeschichte immer wieder Methode der Einsatzführung“, sagt Oberst Markus Reisner, Militärhistoriker und Kommandant der Garde in Wien. Schon der Atlantikwall habe an der Normandieküste sumpfige Gebiete in die Verteidigung integriert, auch in Holland 1944 wurde gezielt geflutet. In der Normandie, erinnert Reisner, hätten die Marschlandschaften um Carentan und entlang des Merderet-Flusses im Juni 1944 die Alliierten nach der Landung von Utah Beach erheblich gebremst. „Und bis heute schützen die Pripjetsümpfe die Nordgrenze der Ukraine.“
Ein aktuelles Beispiel: „Vor kurzem starben bei einer Übung im Baltikum mehrere Soldaten, weil sie mit ihrem M88-Bergepanzer in einem Sumpf versanken“, so Reisner. Die Natur bleibt also auch in modernen Armeen ein entscheidender Faktor.
Das zeigt sich auch am Irpin-Fluss nördlich von Kiew: „Das Fluten des Irpin und die Zerstörung der Brücken darüber hat den Russen nördlich Kyivs das Genick gebrochen“, betont Reisner, der diesen Vorgang in Vorträgen 2022 und 2023 immer wieder hervorhob.
Politisch wie ethisch wirft die Idee, Feuchtgebiete als Verteidigungslinie zu betrachten, Fragen auf: Bedeutet es eine Militarisierung der Umweltpolitik, wenn Ökosysteme Teil der Einsatzplanung werden? Droht Natur nur noch als „strategische Ressource“ wahrgenommen zu werden, deren Schutz an militärische Relevanz gekoppelt ist?
Historische Vorbilder jedenfalls gibt es reichlich. Napoleon scheiterte in russischen Sümpfen, die Wehrmacht mied die Pripjet-Sümpfe im Zweiten Weltkrieg, die Niederländer entwickelten mit der „Hollandse Waterlinie“ ein einzigartiges System aus Dämmen und Flutungen – heute UNESCO-Welterbe. Selbst in Österreich, so Reisner, war die gezielte Nutzung von Überflutungsflächen „bis in die 1980er-Jahre Teil des Raumverteidigungskonzepts“.
Nun könnte an der NATO-Ostflanke eine neue „europäische Wasserlinie“ entstehen: von den finnischen Mooren über die baltischen Staaten bis zur Suwałki-Lücke. Polen prüft im Rahmen seines milliardenschweren „Ost-Schilds“ Wiedervernässungen, in Finnland diskutieren Verteidigungs- und Umweltministerium über Pilotprojekte. Wissenschaftler verweisen auf die Synergien: Intakte Moore speichern riesige Mengen CO₂, dämpfen Dürren und Brände, bieten seltenen Arten Lebensraum – und machen schwere Fahrzeuge manövrierunfähig.
Doch Moore sind keine Notfallknöpfe. Echte Renaturierung braucht Jahre, manchmal Jahrzehnte. Kurzzeitige Überflutungen ersetzen keine systematische Wiederherstellung. Internationale Standards mahnen: Planung, Forschung und Beteiligung der lokalen Bevölkerung sind unverzichtbar. Andernfalls drohen Fehlplanungen, Ungerechtigkeiten und dauerhafte Schäden.
„Natürlich ersetzt das keine klassische Verteidigung“, sagt die estnische Ökologin Aveliina Helm. „Aber es ist eine Möglichkeit, Natur, Klima und Sicherheit zusammenzudenken – bevor wir wieder gezwungen sind, im Krieg hastig Dämme zu sprengen.“
Europa steht also vor einer Wahl: Moore als kurzfristige Kriegswaffe oder als langfristige Schutzmacht – gegen Panzer, Brände und Treibhausgase zugleich.
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