"Krone" im Krisenland
Elend und neue Hoffnung im Libyen nach Gadafi
Das mitternächtliche Zappen durchs libysche TV-Programm zeigt aufs Erste ein scheinbar "sehr freies und tolerantes Libyen": Auf Sender 1 spricht ein gestrenger Islam-Prediger, im nächsten Programm singen Christen verklärt Gospels, gefolgt vom unzensurierten Sexkanal. Nur der am Fernsehkästchen montierte Messingpfeil, der Richtung Mekka weist, erinnert im Tripoliser "Al Tawfeek"-Hotel daran, dass der Islam Staatsreligion ist.
Junge Kämpfer wollen Waffen weiter tragen
Da zerreißen gellende Schüsse die Stille. Gefolgt von ohrenbetäubendem Maschinengewehr-Geknatter. Ein Feuergefecht, 500 Meter vom Hotel entfernt, entbrennt. Auch nach Gadafis Tod vor drei Monaten ist die Umwälzung in Libyen noch immer heiß. Selbst wenn das nächtliche MP-Duell "nur" ein Revierkampf rivalisierender Straßenbanden gewesen sein sollte, zeigt es auf: Die Gewehre wurden von den Ex-Rebellen nicht abgegeben. Die jungen Freiheitskämpfer wollen ihre Waffen auch weiterhin tragen.
Hinter dem martialischen Auftreten der jungen Männer in ihren paramilitärischen Overalls steckt ein Generationskonflikt. "In den 140 Stämmen des Landes herrscht das Senioritätsprinzip. Das heißt, nur die Alten haben etwas zu sagen", so der Nordafrika Experte Fritz Edlinger. In Erinnerung an die vielen jungen Märtyrer, die im Kampf gegen den verhassten Tyrannen gefallen sind, will kaum einer die Waffen abgeben. Mit einer Kalaschnikow bist du eben wer – auch wenn du jung bist!
Trotz dieser angespannten Situation wagte sich nun ein Wiener Ärzteteam nach Libyen. Organisiert von der GÖAB, der Gesellschaft für österreichisch-arabische Beziehungen, reiste das siebenköpfige Team nach Sabrata in ein 70 Kilometer von Tripolis entferntes Spital auf "Fact finding mission", um die Gesundheitssituation im Wüstenstaat zu klären.
Hotel-Security ist mit Raketen bewaffnet
Schon bei der Ankunft auf dem Flughafen unterstreicht Begrüßungsjubel für einige aus Tunesien zurückkehrende Kriegsinvaliden, dass das große öffentliche Interesse den verwegenen Kämpfern gehört. Im Verkehrsgewühl geht es von Tripolis Richtung Sabrata. Versehrte Veteranen humpeln an Gadafis zerbombtem Palast vorbei. Bei Rot geht's über die Kreuzung, überholt wird links oder rechts, ohne auf Polizisten zu achten – das Verkehrsdurcheinander spiegelt das postrevolutionäre Chaos trotz des nationalen Übergangsrates wider.
Drei Pick-ups mit aufgeschweißten Raketenwerfern und Bodyguards in Camouflage-Uniformen samt geschulterten Gewehren als Hotel-Security unterstreichen den Ernst der Lage. Vorm Spitalseingang erinnern Patronenhülsen auf dem Boden an die blutigen Kriegswirren. Anfangs begegnen sowohl Kollegen als auch Patienten den Medizinern aus dem fernen "Nemsa" eher skeptisch.
Trotzdem gehen die drei Ärztinnen, drei Doktoren und ein arabisch sprechender Pfleger ans Werk: Es wird untersucht, geröntgt, operiert, diagnostiziert – mit einem Wort: geholfen und Hoffnung verbreitet!
Vergessene Patienten unter dem Gadafi-Regime
Im Gadafi-Regime über Jahre vergessene Patienten – mit Hüftleiden, Knieproblemen, Rückenschmerzen, offenen Wunden etc. – warten geduldig, bis sie an der Reihe sind. Eine Tür weiter, im überfluteten WC, zeigt sich eine andere Realität: Hygiene ist in vielen Spitalsbereichen ein Fremdwort.
"Endlich werden wir wieder wie Menschen behandelt", lächelt Vater Hussein, der mit Tochter Fatima (4) hier ist, um deren verkrüppelte Füßchen verarzten zu lassen. "Alles in allem gab es 403 Untersuchungen, 17 Operationen, 22 Infiltrationen und einige Fortbildungskurse. Wir beabsichtigen, eine weitere, weitaus umfangreichere Delegation zu entsenden und eine konkrete medizinische österreichisch-libysche Kooperation vorzubereiten", so Uni-Professorin Maria Deutinger. Als Sprecherin des Ärzteteams bringt sie die Erfolgsbilanz auf den Punkt: "Es gibt ein Leben in Libyen, vor allem nach Gadafi!"
Spendenkonto: 285-200-968/03, Bankleitzahl 20111 (ERSTE), Kennwort: GÖAB-Arabienhilfe
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