Erinnerung an 1938

„Die Leute waren damals ja verrückt nach Hitler“

Vorarlberg
12.03.2023 11:25

Mit ihrem Alter von 101 Jahren hat Maria Gunz einen reichen Erfahrungs- und Erinnerungsschatz. Im „Krone“-Gespräch blickt sie auf eine ihrer dunkelsten Erinnerungen zurück, der Anschluss 1938 von Österreich an das nationalsozialistische Deutsche Reich. 

Die Lustenauerin Maria Gunz kann sich noch sehr gut an den 25. Juli 1934 erinnern. Dem Tag, als der austrofaschistische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß bei einem Putschversuch der Nationalsozialisten ermordet wurde. „An diesem Tag war das Geheule groß. Selbst unsere Lehrerin hat getrauert und wir mussten die ganze Zeit beten.“ Ihr Tonfall lässt keinen Zweifel, dass sie dem österreichischen Ständestaat nicht viel abgewinnen konnte. „Mein Großvater war ein Großdeutscher und so war die ganze Familie eingestellt.“ Die 1930er-Jahre bezeichnet sie als „fürchterlich“. So viele Menschen, die sie kannte, litten Hunger, weil sie keine Arbeit hatten. „In jeder Ausgabe des Gemeindeblatts standen Häuser, die versteigert werden mussten“, erinnert sich die noch immer rüstige Frau.

Geboren am 19. Jänner 1922 in Lustenau
Maria Gunz wurde am 19. Jänner 1922 als zweites von sechs Kindern in eine Bauernfamilie in Lustenau hineingeboren. Schon früh musste sie auf dem Hof mitarbeiten, mit zehn Jahren sogar auf dem eines anderen Landwirts. Hunger litt sie aber selbst in den harten 30er-Jahren nie. „Wir hatten alles Mögliche an Getreide, viel Gemüse und ein paar Kühe. Zu uns kamen in dieser Zeit oft Nachbarskinder zum Essen.“ Mittlerweile ist Gunz 101 Jahre alt - was man ihr nicht ansieht. Trotz ihrer Sehbehinderung - seit rund zwanzig Jahren nimmt sie ihre Umwelt nur noch schemenhaft wahr - lebt sie noch immer in ihrer eigenen Wohnung im Haus des Enkels. Die lebhafte und fröhliche Frau kocht und bäckt nach wie vor für sich und die Verwandtschaft. Einziger Wermutstropfen: Ihrer geliebten Handarbeit kann sie nicht mehr nachgehen. Umso mehr Zeit bleibt, sich an Vergangenes zu erinnern.

„Ich wäre so gerne weiter in die Schule gegangen. Ich war so ein wissbegieriges Kind, wissen Sie. Stattdessen musste ich mit 14 Jahren in der Landwirtschaft helfen. Ich habe jedes Mal geweint, wenn ich an der Schule vorbeikam“, berichtet Gunz noch immer wehmütig. Auf den älteren Bruder, der das Gymnasium in der Mehrerau besuchte, war sie deshalb immens eifersüchtig. Die Erlösung kam, als Gunz 15 Jahre alt war, in Gestalt von Mathilde Alge, die mit ihrem Mann eine Stickerei betrieb. Deren Vater war gestorben und sie musste die Verlassenschaft regeln. Also brauchte sie jemanden, der sich um ihre Kinder - sechs, vier und zwei Jahre alt - kümmerte. „Das war mein Glück. Ich habe das so gerne gemacht“, erinnert sich die 101-Jährige. Vor allem habe sie viel Anerkennung und Lob für ihre Mithilfe bekommen. „Mathilde war so lieb zu mir. Zuhause konnte ich ja tun was ich wollte und bekam nie ein Lob.“

Die Familie war anfänglich von den Nazis begeistert
Mathilde Alge war es auch, die ihr das erste Mal brühwarm von einer Begegnung mit Adolf Hitler erzählte. Die Familie war 1936 oder 1937 mit dem Gesangsverein nach Breslau zu einem Sängerfest gefahren, zu dem auch der deutsche Reichskanzler eingeladen war. „Die Leute waren damals ja so verrückt nach diesem Hitler. Als er ihnen in Breslau die Hand geschüttelt hat, wollten sie sie gar nicht mehr waschen“, kann Gunz die Begeisterung nicht mehr nachvollziehen. Auch ihr Vater war bald Mitglied der NSDAP.

Beim Anschluss selbst hätten viele Vorarlberger den neuen Machthabern zugejubelt. „Es waren ja kaum Deutsche zu sehen. Die eigenen Leute, die sich nun offen als SA oder SS zu erkennen gaben, sind auf den Straßen aufmarschiert“, erzählt Gunz. Es habe nur wenige gegeben, die ihre Häuser nicht mit Hakenkreuz-Fahnen beflaggten. „Die hatten es danach nicht leicht. Auch wer nicht beim BDM (Bund deutscher Mädel, Anm.) oder bei der HJ (Hitlerjugend, Anm.) war, war schon gezeichnet.“

Sie selbst war auch beim BDM und damals wirklich begeistert. „Ich habe dort viel gelernt. Es gab Näh-, Ballettkurse, Musikunterricht, Backunterricht - und alles umsonst. Wir hatten Kameradschaft und es war oft sehr lustig.“ Das beiläufige Einschwören auf die Werte und Pläne der Nationalsozialisten regten das Mädchen zur Zeit des Anschlusses und in den ersten Kriegsjahren nicht zum Denken an. „Viele Menschen waren euphorisch. Sie hatten endlich Arbeit, zu essen und bekamen Ausflüge und Urlaube geschenkt. So hat man die Leute doch gefangen“, versteht Gunz nun die damaligen Mechanismen. Ihr Vater sei aber bereits zu dieser Zeit skeptisch geworden ob der vielen Gratisangebote: „Er sagte immer: Große Gewalt wird nicht alt“. Gänzlich gereicht habe es ihm, als der zweite Sohn, der Buchhalter gelernt hatte, seinen Beruf nicht ausüben durfte, sondern in die Landwirtschaft musste. „Er sollte nach dem Krieg im Osten eine enteignete Landwirtschaft verwalten. Da hat mein Vater mit der Faust auf den Tisch geschlagen und gebrüllt: Jetzt reicht es mir aber mit dem Hitler!“ Nach außen hin habe das aber nichts verändert. „Wir haben ja gesehen, wie es den Leuten an den Kragen ging, die sich gegen Hitler gestellt haben.“

An Übergriffe und Racheakte an Christlich-Sozialen in den Tagen des Anschlusses kann sich Gunz nicht erinnern. Wohl aber an einen lernbehinderten Lustenauer, Karl Mutschler, den man in die Valduna gesteckt hatte. „Ein ganz netter Bursch, der auch gearbeitet hat“, blickt sie zurück. Von dort sei er geflohen und bis nach Lustenau gekommen. „Im Ort haben ihn dann die Higa (Hilfszöllner, Anm.) erschossen“, merkt man der alten Frau im Tonfall noch heute die Erschütterung an.

Der Verlobte fiel zwei Tage vor Kriegsende
Die Jahre des Krieges bezeichnet die 101-Jährige als „fürchterlich“. Nur um ein Haar entkam sie einem Arbeitseinsatz in einer Fabrik in Berlin. „Zwei Tage vor der Abfahrt erhielt ich einen Brief, dass ich nicht fahren soll, weil die Fabrik bei einem Bombenangriff zerstört wurde.“ Viel Leid brachte ihr der Krieg aber dennoch. 1942 fiel ihr Bruder Ferdinand in Griechenland. Noch am 6. Mai 1945, zwei Tage vor dem Kriegsende in Europa, wurde ihr Verlobter, ein Konstrukteur für Flugzeugbemessungen, zum Volkssturm eingezogen und erschossen. Ein Jahr konnte sie nicht in Erfahrung bringen, was mit ihm passiert ist. „Das war eine wirklich schwere Zeit.“

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