Eltern vor Gericht

Schütteltrauma: Stille Gebete für ein totes Kind

Österreich
19.01.2022 15:59

„Ich bete jeden Tag für sie, ich rede in Gedanken mit ihr, ich streichle ihre Hand!“ Die Sätze gehen im hemmungslosen Schluchzen der Angeklagten (23) fast unter. Ihr Kind ist tot. Die Schuld nimmt der Hauptangeklagte, der Lebensgefährte, am Wiener Schwurgericht auf sich: „Ich habe die Kleine geschüttelt, ich ahnte nicht, welche Folgen das hat.“

Lisa (Name geändert) war kein Kind der Liebe. Als ihre Mutter bemerkte, dass sie schwanger ist, wollte der Freund die Abtreibung. Doch es war zu spät, die Schwangerschaft fortgeschritten. Lisa kam im März 2021 zur Welt. Der Vater tobte im Spital. Ab da stand die junge Familie unter Beobachtung des Jugendamtes und bekam Unterstützung durch eine Hebamme.

In der Enge einer 37 Quadratmeter-Wohnung wurde alles noch schlimmer: das ungewollte Kind, das angeblich unruhig war und oft geschrien hat, finanzielle Probleme, dazu eine wohl überforderte Mutter. Wie ihr Anwalt Timo Gerersdorfer berichtet, leidet seine Mandantin an einer Intelligenzminderung, ist aber zurechnungsfähig.

„Ich bin schuldig, ich habe sie geschüttelt“
Wegen Mord angeklagt sind nun beide: er vor allem als unmittelbarer Täter. Der 32-jährige Mann redet nicht lange herum: „Ja, ich bin schuldig, ich habe sie geschüttelt. Aber ich wollte nur das Beste für sie. Ich habe mir nächtelang den Kopf zerbrochen, was ich machen kann, damit es ihr gut geht. Ich wollte meiner Tochter doch nichts antun. Ich habe nach dem Schütteln nie bemerkt, dass es ihr nicht gut geht, dass sie aus den Ohren blutet oder dass das das Hirn angreifen könnte.“

Kernfrage: Warum ging Mutter mit Kind nicht weg?
Kernfrage im Prozess ist freilich: Was wusste die Mutter? Die Anklage gegen sie lautet auf Mord durch Unterlassung. Laut Staatsanwältin hat sie mitbekommen, dass ihr Freund das Kind immer wieder misshandelt hat. Die Anklägerin kann sich dabei auf die Einvernahmen vor Polizei und U-Richterin beziehen. Ganz detailliert beschreibt die Frau da, wie ihr Freund Lisa geschüttelt hat, „entweder von links nach rechts, oder von vorne nach hinten, etwa zwei- bis dreimal pro Woche. Und so lange, bis sie ruhig war“. Abgesehen vom tödlichen Schütteltrauma wurden bei Lisa auch Knochenbrüche festgestellt.

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Auf vielen Seiten beschreiben Sie in Einvernahmen bei Polizei und U-Richterin, was Sie gesehen haben. Und wie Ihr Freund das Kind immer wieder gschüttelt hat.

Vorsitzende Nicole Baczak zur angeklagten Mutter

Für die Staatsanwältin gibt es daher nur eine rechtliche Schlussfolgerung: „Wenn man so etwas sieht, muss man eingreifen.“ Die Angeklagte hätte also mit dem Kind vor dem Gewalttäter flüchten müssen.

40 Minuten Reanimation - das Baby schaffte es nicht
Jetzt betont die Frau aber immer wieder: „Ich habe nichts gesehen.“ Auch an jenem 4. Juni sei sie nicht im Zimmer gewesen, als ihr Freund Lisa wieder einmal schüttelte: „Ich war gerade auf dem WC. Als ich zurückkam, wirkte sie teilnahmslos.“ Und dann verlor das Kind das Bewusstsein. Der Rettungsarzt animierte das Baby 40 Minuten und brachte es ins Spital. Doch Lisa verstarb Stunden später. Sie wurde nur elf Wochen, nur 79 Tage alt.

Sofort war klar, dass das Kind Opfer einer Gewalttat geworden ist. Vor Gericht stehen die Eltern einander unversöhnlich gegenüber. Sie reden voneinander nur mit dem Familiennamen und können nicht fassen, dass Lisa tot ist. Die Angeklagte betont, dass eine Flucht für sie kaum infrage gekommen wäre. Zu sehr erinnerte sie ihr dominanter Freund an den gewalttätigen Vater. In der Haft, so sagt sie, habe sie zum Glauben gefunden. Verteidiger Timo Gerersdorfer betont: „Was sie vor der Polizei gesagt hat, ist falsch.“ Und der Freund, der nichts beschönigt, nimmt die frühere Geliebte nur in einem Punkt in Schutz: „Wie ich die Kleine zum letzten Mal geschüttelt habe, hat sie nur das Ende mitbekommen.“ Urteil am Montag.

Peter Grotter
Peter Grotter
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