Georg Schärmer:

„Im Idealfall 700.000 Mitarbeiter in Tirol“

Tirol
29.08.2021 18:00

23 Jahre stand der Inzinger Georg Schärmer an der Spitze der Tiroler Caritas. Ein Gespräch zum Abschied über das Solidaritätsgen der Tiroler, Kritik an der Caritas, die Zukunft der Altenpflege und den Wert guter Geschichten.

„Krone“: Ende August gehen Sie nach 23 Jahren als Tiroler Caritas-Direktor in Pension. Eine lange Dienstzeit, gelingt trotzdem eine kurze Bilanz?
Georg Schärmer: Ja, weil die Grundhaltung der Caritas unverändert geblieben ist: Not sehen und handeln. Manchmal auch ohne Sicherheitsnetz einen neuen sozialen Dienst eröffnen, weil die Not so groß ist. Die Spontanität muss da sein. Das war immer unser Credo. Die Caritas muss sich dafür jeden Tag neu erfinden. Und das tut nicht der Direktor, das ist Verdienst der Mitarbeiter. Und im besten Fall hat die Caritas in Tirol 700.000 Mitarbeiter.

(Bild: LIEBL Daniel | zeitungsfoto.at)

Tirol war stets Vorreiter
Sie sprechen damit die Bevölkerung an, haben stets vom besonders ausgeprägten Solidaritätsgen der Tiroler geschwärmt und ihr freiwilliges Engagement gelobt. Warum?
Das hängt mit der Geschichte und Geografie des Landes zusammen. Witterungsbedingt waren in Tirol die Menschen immer wieder von der Außenwelt abgeschnitten. In den Tälern mussten die Bewohner Systeme der Nachbarschaftshilfe entwickeln. So entstanden Sozial- und Gesundheitssprengel. Deshalb gibt es bis heute in den Gemeinden ein Bekenntnis, die Altenpflege nicht einfach zu privatisieren und auszulagern. Natürlich hat sich die Welt verändert. Aber diese Prägung ist noch da. Es ist kein Zufall, dass sich alljährlich 4000 junge Menschen bei der Young Caritas engagieren und wir in Tirol das erste Freiwilligenzentrum Österreichs gegründet haben.

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Witterungsbedingt waren in Tirol die Menschen immer wieder von der Außenwelt abgeschnitten. In den Tälern mussten die Bewohner Systeme der Nachbarschaftshilfe entwickeln.

Georg Schärmer

Aber hat man nicht zuletzt durch die Pandemie gemerkt, dass der soziale Zusammenhalt bröckelt, eine Polarisierung in der Gesellschaft passiert. Was tun dagegen?
Der Schlüssel ist die Bildung. Soziales Lernen muss in den Schulen verankert sein. Viele Lehrer tun das aus Eigenengagement. Dazu gehört, die Kinder nicht auseinanderzudividieren. Ich bin ein Verfechter der Gesamtschule: Der gute Schüler wird nicht schlechter, wenn er einem andern Kind hilft. Er wird durch das Weitergeben intelligenter und sozial geschult.

(Bild: Caritas Innsbruck)

Es braucht aber auch eine breite Bewusstseinsbildung der Menschen für Themen, die alle berühren. Ein gutes Beispiel ist die Altenpflege: Diese Aufgabe werden wir nicht allein durch Pflegedienste und private Einrichtungen bewältigen. Das ist nicht allein Aufgabe des Staates. Es braucht das Engagement der Zivilgesellschaft. Die Rolle der Politik ist hier entscheidend. Ich sehe viele wache Bürgermeister, die in ihren Orten kluge Dorfentwicklungsprogramme gestartet haben. Sie beziehen die Bevölkerung mit ein und fördern so das Miteinander. Ich sehe aber auch Politiker, die für einen populistischen Sager die Gesellschaft spalten.

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Es braucht eine breite Bewusstseinsbildung der Menschen für Themen, die alle berühren.

Georg Schärmer

Die Caritas hat nicht nur Unterstützer, sondern auch Kritiker. Wie sind Sie mit dem Vorwurf umgegangen, die Caritas würde sich nicht immer für die Richtigen einsetzen?
Meine erste Antwort war immer eine Frage: Wer sind die Richtigen? Für die Caritas sind es alle, die in Not sind. Wir fragen nicht, wo auf dieser Welt ihre Wiege stand und ob sie schuldlos in Not geraten sind.

(Bild: Caritas Innsbruck)

Gute Geschichten sammeln
Sie haben in Ihrer Arbeit großes Leid gesehen, elementares Leid. Wie erhält man sich die Zuversicht trotz ständig neuer Krisenherde?
Indem ich gute Geschichten aus dem Leben sammle. Früher habe ich meinen Kindern jeden Abend eine erzählt. Heute erzähle ich mir selbst Gute-Nacht-Geschichten. Dafür muss ich jedoch ständig Ausschau nach Geglücktem, Hoffnungsvollem halten. Das schärft den Blick für das Gelungene. Ist es nicht faszinierend, wie viel auf der Welt funktioniert? Oft bitte ich die Leute als Honorar für einen meiner Vorträge um eine gute Geschichte. Und noch nie blieb jemand das Honorar schuldig.

(Bild: Caritas Innsbruck)

Ein Beispiel für eine gute Geschichte aus Tirol bitte.
Eine junge Tirolerin wird bei einem tragischen Unfall schwer verletzt, bleibt dauerhaft behindert. Seit dem Vorfall bringt die Nachbarin jeden Samstag einen Kuchen vorbei und vermittelt damit die wichtigste Botschaft: Ich bin da, ich denke an euch.

(Bild: GERHARD BERGER)

Oder: In einem Tiroler Ort mit vielen Weilern braucht es kein Essen auf Rädern, weil die Bewohner die Versorgung gebrechlicher Nachbarn selbst organisieren. Da kommt die Nachbarin, bringt das Essen und bleibt bis zum Nachtisch. Tirol ist voll solcher Geschichten. Man muss nur die Augen aufmachen.

Ein Hoffnungsbuch
Was tun Sie jetzt mit den vielen Geschichten, die Ihnen in den vergangenen 23 Jahren erzählt wurden und widerfahren sind? Auf Ihrer neuen Visitenkarte steht Gastgeber. Was werden Sie kredenzen?
Ich arbeite an einem Hoffnungsbuch. Auch Lesungen, Hörbücher, Podcasts sind geplant. Es gibt viel zu tun (lacht). Meine Rolle verstehe ich als die eines Vermittlers. Ich möchte Räume schaffen, in denen sich Menschen begegnen, gemeinsam diskutieren, musizieren, philosophieren. Uns fehlt heute die Kultur des Nachdenkens, des Vordenkens. Dafür brauchen wir Platz, nicht nur beim Forum in Alpbach.

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