Jüdische Steirer

Nach 1945 war längst nicht alles gut

Steiermark
10.11.2018 16:18

In der Nacht von 9. auf 10. November 1938 eskalierte in der Steiermark die Gewalt der Nazis gegen ihre jüdischen Mitbürger. Gestern veröffentlichten wir die Erinnerung des damals 13-jährigen Grazers Berthold Kaufmann an das Grauen des Novemberpogroms. Heute erzählt seine Tochter Ruth (60) von Flucht und Rückkehr ihrer Familie - und vom Leben als Jüdin im Nachkriegs-Österreich.

Steirerkrone: Die Steiermark war lange vor dem „Anschluss“ an Hitlerdeutschland eine Hochburg der Nazis. Wie hielten es jüdische Bürger hier bis 1938 aus?

Ruth Kaufmann: Wo hätten sie hin sollen? Viele haben sich möglichst lange mit der Situation arrangiert und ihr Glück im Privaten gesucht, in den Festen. Es hat auch immer wieder Wellen der Assimilation gegeben. Juden sind konvertiert oder haben nach außen hin gelebt wie die Christen.

Gab es Leute, die den Wahnsinn wirklich kommen sahen?

Ja, die hat es gegeben. Als die Nazis 1933 in Deutschland an die Macht kamen, sind Juden auf der Flucht bei uns durchgekommen und haben erzählt, wie es dort zugeht. Da haben auch hier einige alles verkauft und sind ausgewandert.

Warum blieben so viele?

Die meisten haben geglaubt, dass es so schlimm nicht werden kann. Mein Großvater Hugo Kaufmann zum Beispiel war ein hochdekorierter Offizier, der im Ersten Weltkrieg für Österreich gekämpft hat. Er war sich sicher, dass man ihm nichts tun würde.

Wie entkam Ihre Familie den Mördern?

Mein Großvater wurde am 9. November 1938 im Zuge der Reichspogromnacht zusammen mit 300 anderen jüdischen Männern verhaftet und nach Dachau deportiert. Es hieß aber, dass er freikommt, wenn die Familie ein Visum und Schiffspapiere für die Flucht auftreiben kann. Meiner Großmutter gelang es, die Papiere zu besorgen.

Damals war die Tötungs-Industrie der Nazis noch nicht angelaufen. Man ließ Ihren Großvater tatsächlich gehen.

Er hatte ein paar Tage Zeit, um das Nötigste zusammenzupacken. Die Familie fuhr mit der Bahn nach Triest und dann mit dem Schiff nach Zypern, wo mein Großvater und mein Vater Arbeit in einer Mine fanden. Später reisten sie weiter nach Israel, wo sie aber nicht legal leben konnten. Deshalb sind sie letztlich in Afrika gelandet.

1949, vier Jahre nach dem Krieg, kehrte Ihre Familie zurück nach Graz. Wie konnte sie das überhaupt, nach allem, was ihr hier angetan wurde?

Die Großeltern hatten in der Fremde furchtbares Heimweh. Sie haben jeden Tag österreichische Musik gehört und dabei geweint. Sie waren durch und durch Österreicher, sind in Dirndl und Lederhosen gegangen. Außerdem kamen damals aus der Steiermark Nachrichten, dass es allen leid tut, dass es ordentliche Entschädigungen gibt, dass man alles zurückbekommt, was einem geraubt wurde.

Wusste man auf der Flucht Bescheid über den Holocaust?

Man hatte allgemeine Informationen, aber wie es den Verwandten ergangen ist, hat meine Familie erst nach der Rückkehr erfahren. Die Mutter meiner Großmutter war 1938 einfach schon zu schwach, um noch zu fliehen. Sie ist im KZ Theresienstadt mit einem Tritt auf den Kopf ermordet worden. Viele aus unserer Familie wurden in Auschwitz ermordet. Davon zu sprechen, geht sogar mir nahe, obwohl ich erst nach dem Krieg geboren worden bin. Wie schwer muss es erst den Zeitzeugen gefallen sein, zu erzählen.

Bei der Rückkehr wollte ein Herr Josef Stangl, der sich Ihre „arisierte“ Wohnung angeeignet hatte, diese nicht räumen. Wurde einem da von der Nachkriegsjustiz geholfen?

Die Leute, die das „arisierte“ Eigentum an sich gerissen hatten, gründeten damals sogar einen Verein, den Verein der „Rückerstattungsopfer“. Letztendlich haben wir den Rechtsstreit gewonnen und durften zurück in unsere Wohnung. Nur ist die Familie Stangl zuerst einfach nicht ausgezogen. Eine Zeit lang hat meine Familie mit ihr zusammen in der Wohnung gewohnt - eine absurde Situation.

Die Steiermark wurde nach dem Krieg nicht konsequent „entnazifiziert“. Viele Nazis und Mitläufer lebten unbehelligt weiter. Erlebte Ihre Familie nach der Rückkehr antisemitische Anfeindungen?

Sehr oft sogar. Regelmäßig, wenn meine Familie mit einem Anliegen aufs Amt ging, wurde alles abgelehnt, weil wir Juden waren.

Das heißt, es gab eine systematische Diskriminierung von Juden, auch nach dem Krieg?

Ja, überall. Das hat so lange gedauert, bis die alte Generation in Pension gegangen ist. Mein Vater war deshalb oft verzweifelt. Großmutter sagte einmal: „Wir haben Graz geliebt, aber Graz hat uns nicht geliebt.“

Haben Sie selbst Angriffe erlebt?

Mein erstes Erlebnis war in der Volksschule. Da hat eine Schulfreundin plötzlich zu mir gesagt: „Du Saujüdin, mit dir darf ich nicht spielen!“ Auch im Pestalozzi-Gymnasium war der Holocaust kein Thema, weil viele Lehrer Nazis waren. 1978 hat mich ein Professor auf der Grazer Universität aus der Vorlesung geworfen, als er erfuhr, dass ich Jüdin bin.

Und für ihn gab es keine Konsequenzen?

Natürlich nicht. Keiner meiner Mitstudenten hat den Mund aufgemacht. Ich bin dann wortlos aufgestanden und hinaus. Das muss man sich einmal vorstellen. Wenn das heute passieren würde, würden alle den Professor fertigmachen.

Wie viele der Opfer, so schwieg auch Ihr Vater lange über das erlittene Grauen, um seine Kinder vom Trauma zu verschonen. Wie ging es Ihnen als Kind damit?

Wir Kinder haben zuerst gar nichts gewusst. Bei uns im Haus haben einige Holocaust-Überlebende gewohnt, aber die haben nur selten angedeutet, was ihnen in den Konzentrationslagern angetan worden ist, an medizinischen Versuchen und anderen Dingen. Wenn ich daheim gefragt habe, sind immer nur Tränen gekommen, sonst nichts.

Sie arbeiten auch als Psychotherapeutin. Warum schweigen die Opfer so lange, und macht dieses Schweigen die Menschen krank?

Es ist eine normale Reaktion, dass Traumatisierte schweigen. Das Schweigen zu brechen, ist eine gute Möglichkeit, mit dem Trauma umzugehen, aber das würde ich niemandem vorschreiben wollen. Sicher ist, dass Angststörungen auch noch unter den jüdischen Nachkommen stark verbreitet sind. Ich kenne niemanden mit einem Holocaust-Hintergrund, der nicht unter Panikattacken gelitten hätte.

Unzählige Naziverbrecher konnten nach dem Krieg unbehelligt in der Steiermark weiterleben. Können Sie diesem Land verzeihen?

Die Jugend kann nichts dafür, was passiert ist. Sie ist von Antisemitismus und Rassismus weit entfernt. Die Österreicher sind heute keine Nazis, außer ein paar kranke Personen. Aber die gibt es ja immer.

Geht unser Staat konsequent genug gegen Neonazis vor?

Ich glaube, dass die Regierung energisch eingreift gegen Antisemitismus.

Haben Sie Angst vor dem zugewanderten Antisemitismus aus den muslimischen Ländern?

Ja. Vor dem radikalen Islamismus habe ich sehr wohl Angst, nicht nur als Frau mit christlich-jüdischen Wurzeln, sondern auch als Österreicherin.

Ruth Kaufmann
Die Psychotherapeutin, 1958 in Graz geboren, studierte Medizin, Psychologie und Bildungswissenschaften. Sie wuchs in einer der wenigen jüdischen Familien auf, die nach dem Weltkrieg nach Graz zurückkehrten. Wohnort der Familie Kaufmann war das Haus neben dem Platz, wo bis zur Neuerrichtung der Synagoge um die Jahrtausendwende ein Bauloch klaffte.
Erst nach Jahrzehnten konnte sie ihren schwer traumatisierten Vater Berthold dazu überreden, von seinen furchtbaren Erinnerungen an die Judenverfolgung in der nationalsozialistischen Steiermark zu berichten. Ruth Kaufmann dokumentierte zahlreiche Zeitzeugengespräche mit Überlebenden und gründete das Holocaust- und Toleranzzentrum Österreich. Sie war einige Jahre lang Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde in Graz. Mit anderen schuf sie die im Grazer Museum für Geschichte gezeigte Dauerausstellung „Bertl & Adele - Zwei Grazer Kinder im Holocaust“.

Matthias Wagner
Matthias Wagner
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