"Terror ist vorbei"

Jagd auf Brüder in Boston zu Ende: Zweiter ist in Haft

Ausland
20.04.2013 07:10
Riesige Erleichterung in den USA: Nach einer der größten Polizeiaktionen seit 9/11 ist der zweite Bombenleger von Boston festgenommen worden. Der 19-jährige Dzhokhar A. Tsarnaev wurde am Freitagabend Ortszeit auf einem Boot im Garten eines Hauses im Bostoner Vorort Watertown gestellt und mit schweren Verletzungen in ein Krankenhaus gebracht. Sein Bruder (26) war in der Nacht zuvor gefasst worden und wenig später im Spital gestorben. Die beiden sollen für die Anschläge auf den Boston-Marathon mit drei Toten und 180 Verletzten verantwortlich sein. "Der Terror ist vorbei", twitterte die Polizei nach dem Ende der Jagd.

Nachdem die Bostoner Polizei und das FBI tagelang nach den Bombenlegern gesucht hatten, überschlugen sich seit der Nacht auf Freitag die Ereignisse: Zunächst hatte es am späten Donnerstagabend am Campus der Eliteuni MIT im Bostoner Vorort Cambridge einen Alarm wegen Ruhestörung gegeben. Als Polizisten eintrafen, erwarteten sie aber nicht etwa betrunkene Studenten, sondern die beiden Brüder namens Tamerlan und Dzhokhar Tsarnaev (kleines Bild). Die Verdächtigen eröffneten das Feuer auf die Polizisten, ein Beamter starb.

Nach Schießerei am MIT-Campus Geisel genommen
Die Brüder ergriffen die Flucht, überwältigten dazu einen Autofahrer und fuhren mit ihm als Geisel davon. Eine halbe Stunde später wurde die Geisel unverletzt an einer Tankstelle freigelassen. Da hatte die Polizei schon die Verfolgung der Brüder aufgenommen - und auch bereits den Verdacht, dass es sich bei den Flüchtigen um die Verdächtigen des Terroranschlags von Boston handeln könnte.

Fotos der jungen Männer vom Tatort hatte das FBI erst kurz zuvor veröffentlicht. "Die Männer sind bewaffnet und gefährlich", warnte ein FBI-Chefermittler. "Niemand soll sich ihnen nähern." Die wilde Verfolgungsjagd - während der es laut Augenzeugen zu mehreren Explosionen und Schüssen gekommen sein soll - endete in der rund fünf Meilen entfernten Ortschaft Watertown. Erneut kam es zu einer Schießerei.

Verletzungen durch unzählige Schüsse und Sprengstoff
Dabei wurde der als Tamerlan identifizierte 26-Jährige - jener Verdächtigen, der auf den Fahndungsfotos mit schwarzer Kappe zu sehen ist und vom FBI "Suspect Nr. 1", "Verdächtiger Nummer 1", getauft worden war - schwer verwundet und erlag wenig später im Spital seinen Verletzungen. Nach Angaben von Ärzten sei er von zahlreichen Kugeln getroffen worden, die Zahl der Einschüsse sei "nicht zu zählen gewesen". Einige Verletzungen seien auch durch Sprengstoff verursacht worden. Der Verdacht liegt nahe, dass sich die Flüchtenden Sprengstoffgürtel um den Körper geschnallt hatten.

"Suspect Nr. 2 - Ein Mann, der gekommen ist, um zu töten"
Seinem Bruder Dzokhar Tsarnaev, "Suspect Nr. 2", gelang allerdings zunächst die Flucht. Die Polizei war sich sicher, dass er sich irgendwo in Watertown versteckt hielt, und warnte die Bevölkerung, dass er schwer bewaffnet sein und Sprengstoff an seinem Körper haben könnte. "Wir gehen davon aus, dass es sich um einen Mann handelt, der gekommen ist, um zu töten", sagte Bostons Polizeichef Ed Davis. "Unsere erste Sorge ist die Sicherheit der Menschen in der Gegend", ergänzte Polizeioffizier Timothy Alben.

Die Polizei rief die Bevölkerung auf, nach Möglichkeit zu Hause zu bleiben, da der Gesuchte eine Gefahr für alle darstellte: "Verlassen Sie nicht Ihre Wohnungen. Machen Sie keinem Fremden die Tür auf. Sollten Sie ein Klopfen an der Tür hören, bitte gehen Sie sicher, dass es sich um eine uniformierte Person der Polizei oder anderer Einsatzorganisationen handelt." Polizeieinheiten durchsuchten das hermetisch abgeriegelte Watertown Haus für Haus.

Ganz Boston stand während der Fahndung still
Wegen der Fahndung stand aber nicht nur der Vorort, sondern praktisch ganz Boston still. Die Polizei unterbrach den öffentlichen Nahverkehr der Ostküstenmetropole. Busse und Bahnen wurden gestoppt, Schulen, Universitäten und Geschäfte blieben geschlossen. Die Nationalgarde fuhr mit Panzerwagen in Tarnfarben Patrouille. Auch der Luftraum über dem Nordwesten von Boston wurde gesperrt.

Freitagmittag Bostoner Zeit dann der erste Erfolg: Beamte entdeckten das Fluchtauto des 19-Jährigen in Watertown. Es sollte aber weitere acht Stunden dauern, bis sie auch den Attentäter finden sollten. Noch am Abend gab die Polizei sichtlich enttäuscht bekannt, dass trotz des rund 20-stündigen Großeinsatzes keine Festnahme gelungen sei. "Aber sie wird kommen", sagte Alben. Er sollte recht behalten.

Keine 30 Minuten später begann das große Finale: Medien meldeten Schüsse in Watertown, TV-Bilder zeigten ein massives Polizeiaufgebot, gepanzerte Fahrzeuge und Krankenwagen vor einem Grundstück. Die Polizei twitterte kurz darauf: "GEFASST!!! Die Jagd ist zu Ende. Der Terror ist vorbei. Die Gerechtigkeit hat gesiegt. Verdächtiger in Polizeigewahrsam."

In Boot auf Grundstück in Watertown verschanzt
Die Behörden kamen Dzhokhar durch den Hinweis eines Hausbesitzers auf die Spur. Er inspizierte laut Polizeiangaben am Abend nach der Aufhebung einer Ausgangssperre, die im Zuge der Fahndung verhängt worden war, sein Motorboot, das auf seinem Grundstück abgestellt war. Der Mann sah den Angaben zufolge Blutspuren auf der Abdeckplane, hob diese hoch und entdeckte darunter einen blutbedeckten Körper. Sofort habe er den Polizeinotruf gewählt.

Die Polizei habe zunächst einen Hubschrauber mit einer Vorrichtung zum Aufspüren von Hitzeausstrahlung eingesetzt und dadurch festgestellt, dass es sich bei der Person im Boot um einen lebendigen Menschen handle, hieß es weiter. Danach seien Spezialeinsatzkräfte an den Ort geschickt worden. Sie hätten versucht, den Verdächtigen anzusprechen, aber er habe nicht reagiert.

Wie der 19-Jährige dann in Gewahrsam genommen wurde, blieb zunächst unklar. Laut Medienberichten gingen Vermutungen aber dahin, dass er nicht im Zuge seiner Festnahme, sondern bereits in der Nacht auf Freitag während des Schusswechsels mit der Polizei verletzt worden war, im Rahmen dessen sein älterer Bruder Tamerlan getötet worden war. Der 19-Jährige wurde nach seiner Festnahme in ein Krankenhaus von Massachusetts gebracht.

Obama: "Warum haben sie zu so starker Gewalt gegriffen?"
Nach der Festnahme des 19-Jährigen jubelten Hunderte Menschen auf der Straße in Watertown, warfen die Fäuste in den Nachthimmel und riefen: "USA, USA!" "Wir haben ein wichtiges Kapitel dieser Tragödie geschlossen", sagte US-Präsident Barack Obama am späten Abend im Weißen Haus. Er schaute sich das ganze Drama in seinen Privatgemächern an und eilte nach der Festnahme zu seinen Beratern ins Oval Office.

Jubelgesten jedoch vermied der Commander in Chief - dafür waren die Geschehnisse schlicht zu ernst. Stattdessen lobte er die Fahnder überschwänglich für ihre Tapferkeit und versprach der Nation absolute Aufklärung. "Warum haben junge Männer, die hier aufgewachsen sind und studiert haben, zu so starker Gewalt gegriffen" - das sei die Kernfrage. Nicht nur die Familien der Opfer verdienten Antworten.

Tschetschenien weist Verbindung zu Attentätern zurück
Die beiden jungen Männer sind nach bisherigen Erkenntnissen tschetschenischer Herkunft, aber lebten mit ihren Familie bereits seit 2002 in den USA, wo sie Asyl erhielten. Aufgrund der Herkunft tendiert man in Ermittlerkreisen zu der Annahme, dass das Attentat auf den Boston-Marathon einen islamistischen Hintergrund hatte. Vertreter der tschetschenischen Regierung wiesen die Verdächtigungen jedoch zurück, die mutmaßlichen Attentäter hätten Verbindungen zu islamistischen Zellen und Ausbildungslagern in der Kaukasusrepublik.

"Die Personen, die in Boston des Verbrechens beschuldigt werden, haben zu Tschetschenien keinerlei Beziehungen", sagte Alwi Karimow, der Sprecher von Republikchef Ramsan Kadyrow, am Freitag der Agentur Interfax. Die beiden Brüder hätten demnach bereits im Kindesalter die islamisch geprägte Region verlassen.

Vater: Söhne von US-Geheimdienst "in Falle gelockt"
In Dagestan, Nachbarrepublik von Tschetschenien, hat sich ein Mann mit dem Namen Ansor Tsarnaev zu Wort gemeldet, der nach eigenen Angaben der Vater der beiden mutmaßlichen Attentäter von Boston ist. Die US-Geheimdienste hätten seine Söhne "in eine Falle gelockt", sagte Tsarnaev am Freitag der Nachrichtenagentur Interfax an seinem Wohnsitz in der Hauptstadt Machatschkala. Er bezeichnete seine Söhne als "strenggläubige Muslime".

"Warum haben sie Tamerlan getötet?", fragte Ansor Tsarnaev, als er vom Tod des 26-Jährigen erfahren hatte. "Sie hätten ihn lebend fassen müssen." Über, nun weiß ich nicht, was geschehen wird."

Die Mutter der beiden mutmaßlichen Bombenleger von Boston äußerte sich in einem Telefoninterview mit CNN ihre ähnlich. "Es ist unmöglich für beide von ihnen, derartige Dinge zu tun", sagte Zubeidat Tsarnaev am Freitag. Ihre Söhne würden ihr so etwas nie verheimlichen. "Wenn es irgendjemanden gibt, der das wissen würde, dann wäre ich das", sagte sie.

Onkel der Brüder: "Es ist eine Schande"
Ruslan Tsarni, ein im US-Bundesstaat Maryland wohnhafter Onkel der Brüder, sagte gegenüber Medien, dass er die beiden im Jahr 2005 zum letzten Mal gesehen habe. "Es ist eine Schande, dass die Söhne meines Bruders so etwas getan haben", so Tsarni. "Ich respektiere dieses Land, ich liebe dieses Land, das jedem eine Chance gibt. Meine Neffen haben Schande gebracht über alle hier lebenden Tschetschenen."

Verletzte dürften alle überleben
Bei der Explosion der Bomben beim Boston-Marathon waren ein achtjähriger Bub, eine 29 Jahre alte US-Amerikanerin und eine Studentin aus China getötet worden. Mehr als 180 Menschen wurden verletzt, vielen mussten Gliedmaßen amputiert werden. Aus den Krankenhäusern der Stadt hieß es, dass wohl alle Verletzten überleben werden - bei einigen könnte die Genesung jedoch mehrere Jahre dauern (siehe Infobox).

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