Verwirrung wegen Merz

Kann Kiew jetzt Raketen Richtung Moskau feuern?

Außenpolitik
27.05.2025 21:30

Der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz hat seine eigene Glaubwürdigkeit erneut aufs Spiel gesetzt. Mit irreführenden Aussagen über Reichweitenbeschränkungen für deutsche Waffen in der Ukraine schürte er Erwartungen, die im Praxistest krachend durchfallen. Eine Einordnung.

Der deutsche Neo-Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) will anders sein als sein Vorgänger Olaf Scholz (SPD), der während seiner Regierungszeit häufig als „Bremser“ und „Zauderer“ kritisiert worden ist. Der Christdemokrat mimt seit seinem Dienstantritt deshalb den „Außenkanzler“. Merz prescht auf der internationalen Bühne vor, wo es nur geht.

Bisweilen beschleicht einen aber das Gefühl, dass hinter seinen markigen Worten keine Strategie, sondern fehlende Impulskontrolle stecken könnte.

Der neueste Aufreger im politischen Berlin ist die vermeintliche Ankündigung des Bundeskanzlers, Kiew von „allen“ Reichweitenbeschränkungen für deutsche Waffen zu erlösen. Diese gebe es weder von den Briten, Franzosen, den Amerikanern, „noch von uns“. Die Ukraine könne sich jetzt verteidigen, indem sie zum Beispiel militärische Stellungen in Russland angreife, erklärte Merz am Montag bei einer Digitalkonferenz in Berlin vor Live-Publikum. Das habe sie bis vor einiger Zeit nicht gekonnt: „Das kann sie jetzt.“

Die Wortmeldung in voller Länge:

Schall und Rauch statt echter Hilfe
Was nach einer Zäsur in diesem Krieg klang, gefährdet in Wahrheit die Glaubwürdigkeit von Merz. Denn nur wenige Stunden nach seiner vollmundigen Ansage musste der Christdemokrat zurückrudern. Er habe lediglich beschrieben, was seit Monaten gelte. 

Sein Koalitionspartner wirkte völlig überrumpelt vom Ausritt des deutschen Bundeskanzlers. „Was die Reichweite angeht, will ich noch sagen, da gibt es keine neue Verabredung, die über das hinausgeht, was die bisherige Regierung gemacht hat“, sagte Vizekanzler und SPD-Chef Lars Klingbeil auf Nachfrage bei einer Pressekonferenz in Berlin.

Nicht immer auf demselben Stand: Merz und Klingbeil
Nicht immer auf demselben Stand: Merz und Klingbeil(Bild: AFP/RALF HIRSCHBERGER)

Die Situation erinnerte an den unabgesprochenen Auftritt von Merz‘ Außenminister in der Türkei, als dieser eine massive Erhöhung des Verteidigungsbudgets zusagte, obwohl er dafür gar keine Befugnis hatte. Derlei Verhalten zieht sich durch die ersten Wochen der Merz-Amtszeit.

Mehr noch: Im Berliner Regierungsviertel gebe es keine neuen Bestrebungen, die Langstreckenrakete Taurus für den Krieg um die Ukraine freizugeben, heißt es aus SPD-Kreisen.

Deutschland liefert keine relevanten Langstreckenwaffen
Merz schmückte sich bei seinem Auftritt somit mit Hilfen, die er gar nicht zur Verfügung stellt. Um es klarer zu formulieren: Deutschland liefert der Ukraine keine Waffen, die Ziele weit hinter der Frontlinie treffen könnten. Der Raketenwerfer Mars II mit einer Reichweite von etwa 85 Kilometern ist das einzige Waffensystem, das theoretisch dazu in der Lage wäre.

Die Munition dafür kommt laut ukrainischen Aussagen aber gar nicht mehr aus Deutschland, sondern aus den USA – und liegt damit gar nicht im Berliner Einflussbereich. Seit dem Amtsantritt von Donald Trump im Januar haben die Amerikaner keinen Nachschub mehr zugesagt. Deutschland spielt bei militärischen Wirkungstreffern im russischen Hinterland de facto keine Rolle.

Die Ukrainer nutzten bislang britisch-französische Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow/Scalp und richteten damit beispielsweise auf der Krim einigen Schaden an. Allerdings ist nicht gesichert, ob Kiew die Exportvariante mit der vollen Reichweite von 560 Kilometern zur Verfügung steht. Auch die Atacms-Raketen der Biden-Regierung wurden in einer früheren und damit reichweitenärmeren Variante ausgeliefert. Bei beiden Waffen ist unklar, ob die Ukrainer überhaupt noch Bestände besitzen, da der Westen selbst keine besonders großen Vorräte hatte. 

Merz‘ Worte sind riskant
Auf dem Schlachtfeld wird seine Ankündigung also keinen Unterschied machen. Der breitbeinige Auftritt von Merz weckte Erwartungen, die einem Praxistest nicht einmal ansatzweise standhalten. Viel mehr wirkt es so, als müsse der Ex-Lobbyist, der noch nie ein Regierungsamt innehatte, gerade einiges an Lehrgeld zahlen. 

Seine klare Kante gegen den Kreml mag viele erfrischen, kann sich angesichts solcher Auftritte aber schnell abnutzen. Vor seiner Wahl zum Bundeskanzler hatte Merz noch versprochen, die Taurus (Reichweite mehr als 500 Kilometer) für Kiew freizugeben. Sie könnte effektiv jene Infrastruktur in Russland stören, die für Luftangriffe auf die Ukraine unverzichtbar ist. Wenn die Langstreckenwaffe in hoher Stückzahl geliefert werden würde, könnten Flugplätze, Produktionsstätten und Munitionslager ernst- und dauerhaft ins Visier genommen werden.

Putin testet Europa
Das wäre gerade jetzt wichtig, da der Krieg laut Sicherheitsexperten eine neue Phase erreicht, in der Moskau mit seinen massenproduzierten Waffen die Oberhand gewinnt. „Es ist jetzt an den handlungswilligen Europäern, der Ukraine dabei zu helfen, Putin zum Frieden zurückzudrängen und diplomatischen Bemühungen die notwendige Kraft zu geben“, erklärte etwa Nico Lang auf der Plattform X.

Putins Drohnen-Tsunami traf die Ukraine mit voller Wucht.
Putins Drohnen-Tsunami traf die Ukraine mit voller Wucht.(Bild: Sputnik/AFP/AP)

Die brennenden Kiewer Wohngebäude vom Wochenende seien nur ein Vorgeschmack auf das, was jetzt kommen könnte. „Der russische Angriffskrieg tritt in eine Phase ein, in der Putin vor dem Hintergrund des erratischen Handelns Trumps gezielt die Frage aufwirft, was die europäischen Solidaritätsbekundungen, Gipfeltreffen und Verlautbarungen im praktischen Handeln wert sind.“

Merz selbst stand am Dienstag in der finnischen Stadt Turku, als er erklären musste, dass sein Reichweiten-Sager nur eine Nacherzählung war – während der russische Diktator mittlerweile fast jede Nacht über 300 Drohnen und Raketen über die Grenze in die Ukraine schickt. Die CDU hatte vor der Wahl das Motto „einfach mal machen“ ausgerufen. Dass das gar nicht so einfach ist, muss mittlerweile auch „Außenkanzler“ Merz einsehen. 

Am Mittwoch weilt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Berlin. Merz hätte hier die Chance, seinen Worten auch Taten folgen zu lassen ...

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