Live am Europavox

Shame: „Sind wie ein Witz, der nicht zu Ende geht“

Wien
17.11.2023 17:05

Ein Besuch bei der Schiele-Ausstellung im Leopold Museum und eine große Portion Kaiserschmarrn - Shame-Frontmann Charlie Steen nützt bei seinem ersten Wien-Gig das Touristenprogramm. Abseits davon plauderte der Frontmann der kantigen Post-Punk-Band vor seinem Auftritt beim Europavox-Festival im WUK über seine schwierige Zeit als Teenager, warum die Bandmitglieder während Covid wieder zu den alten Jobs zurückmussten und warum Acts aus South London momentan die globale Indie-Szene beherrschen. 

„Krone“: Charlie, deine Post-Punk-Band Shame bringt dich nicht nur das erste Mal nach Wien, sondern seit Jahren rund um die Welt. Man kann seine 20er wahrscheinlich schlimmer durchleben …
Charlie Steen:
Besonders diese aktuelle Tour ist großartig. Nicht nur kommen wir in Städte und Gegenden, die wir vorher noch nie besucht haben, wir sehen auch viele zeitgenössische Bands, weil wir ein paar Festivals wie das Europavox spielen und mit denen konfrontiert sind, die gerade angesagt sind. Das ist auch für mich sehr inspirierend.

Andererseits gibt es auch wenige Bands, die so viel auf Tour sind wie ihr. Zumindest seit die Covid-Beschränkungen gefallen sind, wirkt es so, als wärt ihr überhaupt nicht mehr zu Hause.
Ein paar gute Freunde von uns sind mit ihren Bands noch extremer unterwegs. Das Musikbusiness ist heute ein anderes. Du kannst dir in London die Miete nicht leisten, wenn du als Musiker nicht permanent auf Tour bist. Kein Mensch kauft mehr Platten und ich selbst höre die ganze Zeit Spotify. Wir hatten aber ein gutes Jahr. Das Album „Food For Worms“ lief toll und brachte uns viele Konzerte ein.

Euer drittes und bislang reifstes Album. Es ist stellenweise ruhiger ausgefallen und wenn man genau hinhört, könnte man sogar Balladen erkennen. Werdet ihr erstmals ein bisschen altersmilde?
Ich habe keine Ahnung, aber das war das erste Mal, dass wir ein Album live eingespielt haben. Manche Songs sind langsamer, andere wieder viel schneller. Ich war erstmals im Songwriting-Prozess integriert. Ich spiele Bass auf „Adderall“ und „Burning By Design“ und Gitarre auf den beiden letzten Songs des Albums. Wir haben es innerhalb von drei Monaten geschrieben, was für uns nicht üblich ist. Daher waren auch die Inhalte und Themenbereiche klarer vorgegeben als es früher der Fall war. Ich glaube aber, dass wir wieder in die andere Richtung wollen. Das nächste Album soll schneller werden, „Food For The Worms“ ist eher ein Mid-Tempo-Album.

Drei Monate sind wirklich nicht viel. Braucht ihr den Druck und die Deadlines, um gut zu funktionieren?
Deadlines sind immer gut, zumindest für uns. Wir haben ein Jahr lang geschrieben und es kam kein einziger vernünftiger Song dabei raus. Dann sagte uns das Management, wir hätten noch drei Wochen Zeit bis zwei Konzerte anstehen, wo wir gefälligst auch etwas Neues präsentieren sollen und das hat uns gekickt. Zweieinhalb Monate später standen wir mit Flood als Produzenten im Studio und es lief wie von selbst.

Flood produzierte unter anderem Depeche Mode, U2 oder die Nine Inch Nails. Er hat euch sicher auch neue Soundtüren geöffnet. Wie war die Zusammenarbeit mit ihm?
Diese Türen hätten sich nie öffnen dürfen. Er ist ein absolut Irrer, völlig verrückt. (lacht) Ich liebe ihn, aber er ist völlig abgedreht. Bei ihm war es wie in einem Boot-Camp, als wir aufgenommen haben. Wir wurden fitter und haben viel weniger geschlafen, weil er uns dauernd auf Trab hielt. An einem Tag haben wir 75 Takes des Songs „Orchid“ hintereinander eingespielt - und keinen davon genommen. Im Sommer 2022 nahmen wir das Album auf und spielten auch Festivals. Wir flogen also am Wochenende zu einem Gig und standen Montag wieder im Studio, wo Flood uns folterte. Das war eine unglaublich intensive Zeit.

Außerdem sind auch eure Konzerte mehr als schweißtreibend. Wie hält man dieses Tempo auf so lange Dauer überhaupt durch?
Letztes Jahr war es im Sommer heftig. Durch das Post-Corona-Chaos ging so gut wie kein Flug pünktlich und dann hatten wir auch noch den verdammten Brexit. Wir waren vor jedem Flug stundenlang davor am Flughafen, aus Angst, ihn zu verpassen. Das war heftig, denn das Reisen war die Hölle auf Erden. Auf dieser Tour fahren wir gemütlich im Bus und haben tagsüber Zeit, die Städte zu erkunden. Das Touren ist durch die Show und das Publikum immer großartig. Die Leute haben „Food For The Worms“ über die Landesgrenzen hinaus wunderbar angenommen und das spüren wir allabendlich bei jeder Show.

Für britische Bands ist es meist nicht so leicht, in den USA zu reüssieren. Wie geht es euch bislang damit?
Es ist immer noch hart und es gibt Plätze, wo ich nicht unbedingt mehr hin muss. Natürlich geht es uns in Großbritannien und Europa besser, aber es ist da drüben okay. Ein großes Konzert zu haben, heißt nicht automatisch, man hat es in Los Angeles oder New York, sondern in Kalamazoo in Michigan. (lacht) In den großen Städten hatten wir sehr gute Konzerte, in der Peripherie war es nicht immer so leicht. Man fährt täglich schnell mal neun Stunden im Van und die Landschaft verändert sich nicht einmal minimal. Das muss man gewohnt werden.

2024 feiert ihr als Band das zehnjährige Bestehen - immer noch mit stabilem Line-Up. Was kommt dir in den Sinn, wenn du an die erste Dekade Shame denkst?
Das war eine irre Reise. Wir sind wie ein Witz, der niemals zu Ende geht. (lacht) Zurückzuschauen ist sehr eigenartig, denn wir sind jetzt 26 und haben schon zehn gemeinsame Jahre. Wir haben viele tolle Freunde gewonnen und unglaublich viel gesehen und erlebt. Wir haben großes Glück, dass wir das tun dürfen und sind immer noch gut befreundet.

Normalerweise redet man sich mit Freunden zusammen, geht ins Pub und trennt sich dann wieder. Ihr klebt aber wochenlang in Bussen und Vans aufeinander. Benötigt dieses Leben eine andere Form der Freundschaft?
Jeder hat extrem viele Freiheiten, was in dieser Form unerlässlich ist. Ich war noch nie verheiratet, aber es kommt mir oft so vor, als wäre ich es mit vier verschiedenen Typen. Als ich früher mit meinen Eltern auf Urlaub war, ging mein Dad oft auf einen Drink an die Bar und meine Mum shoppte in der Stadt oder im Ort. So ähnlich ist das auch bei uns. Wir fahren mit dem Bus, zerstreuen uns dann in alle Winde und finden bis zum Soundcheck wieder zusammen.

Vor zehn Jahren hattet ihr aber überhaupt keinen Druck. Vier Teenager, die einfach gemeinsam Musik machen und die Sau rauslassen wollten. Jetzt erwarten sich Plattenfirmen, Managements und Fans Dinge von euch. Fühlt sich das Leben in Shame dadurch anders an?
Der größte Unterschied zu früher ist, dass die Leute wieder Bands mögen. Als wir 2014 angefangen haben, war das Konzept einer Band tot. In der Schule war es ganz klar, dass du weder die Mädels kriegst, noch zu Partys eingeladen wirst, wenn du ein Teil einer Band bist. Das war ein ungeschriebenes Gesetz. Heute ist das wieder ganz anders, weil es auch so viele tolle Bands gibt. Würden wir jetzt von null beginnen, wäre das brutal. Selbst für uns, die schon länger dabei sind, ist es schwierig, weil dermaßen viele Bands touren. Ich rede nicht von Kings Of Leon oder Kasabian, das sind andere Kaliber, aber als wir angefangen haben gab es Fat White Family, King Krule, Childhood, Wolf Alice und die Palma Violets. Das war aber nur eine Handvoll. Wenn ich dir jetzt aufzählen würde, welche Bands sich die letzten fünf Jahre alleine in South London formiert haben, würden dir die Batterien im Diktiergerät leer werden.

Ihr seid ein Kind der legendären Brixton-Szene im Szenelokal Windmill. Eine Gegend, die Fat White Family, Black Midi, Black Country, New Road, Sorry und noch andere Bands hervorbrachte. Pusht man sich da automatisch gegenseitig zu Höchstleistungen?
Die Freundschaft stand immer über allem. Rivalität ist nicht einmal im Ansatz gegeben, es geht einfach darum, eine gute Zeit zu haben und sich zu schätzen und zu respektieren. Als wir im Windmill bei den Open-Mic-Nächten begannen, war alles gemischt. Da sang oft ein Dreadlocks-tragender weißer Typ irgendwas auf Deutsch - es war abgedreht und unkoordiniert. Es gab 70-Jährige, die auf Bongos trommelten, dann kamen wir. Mit Goat Girl-Sängerin Clottie bin ich in die Schule gegangen, mit Sorry-Sängerin Asha ging ich auf die Kunstuni und sie kannte wiederum die Dead Pretties, deren Sänger Jacob heute am Mikrofon von Wunderhorse steht. Es gab unzählige Querverbindungen und alles hat sich völlig natürlich ergeben. Später waren wir auf Festivals und eine Zeit lang mit den Idles auf Tour, die auch zu guten Freunden wurden. Das hat sich alles ergeben und niemand von uns war populär. Ein lustiger Zufall.

Die britische Musikszene bringt seit Aufkommen von Pop- und Rockmusik großartige Acts und Bands hervor. Egal, wie es gerade politisch aussieht. Egal, ob es Brandherde gibt oder nicht. Woran liegt das deiner Meinung nach?
Gerade Corona hat uns gezeigt, dass nicht alles selbstverständlich ist. Wir fünf Typen in Shame sind alle in South London geboren und aufgewachsen und es ist ein Privileg, in dieser Stadt zu wohnen. Bei den heutigen Grundstücks- und Mitpreisen ist es unmöglich, sich dort das Leben zu leisten. Wir haben Eltern, die uns geholfen haben, wofür wir sehr dankbar sind. Uns wurde während Corona das Touren genommen und damit die wichtigste Einnahmequelle. Wenn es überhaupt keine finanzielle Sicherheit mehr gibt, du keinen Applaus von Leuten kriegst und dich niemand kennt, du aber trotzdem weiter Musik machst, dann kommt sie wirklich aus deinem Herzen. Da geht es dann darum, es zu tun, weil man es tun muss. Man muss etwas sagen oder mitteilen. In Großbritannien ist das schon seit längerer Zeit so, dass junge Leute sich den Stein von der Brust rollen müssen und das durch die Musik praktizieren. Das ist vielleicht auch der Grund, warum Musiktherapien sich seit geraumer Zeit immer größerer Popularität erfreuen. (lacht)

Hat sich dieser Zugang bei dir nicht geändert? Schreibst du Songs auch noch hauptsächlich deshalb, weil du es einfach tun musst?
Je mehr du über Dinge nachdenkst, desto gezwungener wirken sie. Es kommt einem schnell etwas schablonenhaft vor, wenn man nach Themen sucht und sie nicht natürlich in sich findet. Ich verspüre immer den Drang, meine Gedanken niederzuschreiben. Man kann nie vorhersagen, was die Leute mögen. Das Publikum ist immer intelligent genug, um zu merken, ob du etwas ernst meinst oder nicht. Am Ende musst du ehrlich zu dir und anderen sein, denn sonst funktioniert das nicht. Wir haben auch ironische Songs wie „Six-Pack“, aber eine gewisse Ehrlichkeit und Seriosität muss bei allem Witz immer dabei sein. Das gehört zum Leben. John Lennon sagte immer: „Say what you mean, make it rhyme and put a backbeat to it“. Das gilt heute immer noch.

Fühlt sich Shame heute noch immer so an wie vor zehn Jahren, oder hat sich da viel entwickelt und verändert?
Der erste Song, den wir je geschrieben haben, war „One Rizla“. Es geht darum, die Unsicherheit zu umarmen und sich darin fallen zu lassen. Wenn ich mir auf der Bühne das Shirt vom Körper reiße, bin ich nicht Brad Pitt. Ich bin dann wieder der pummelige und verarschte Teenager, der ich damals eben war. Shame war immer eine Band für diejenigen, die nicht so gut aussahen, die nicht gut ganzen konnten, oder die sich nicht den neuesten Nike- oder Adidas-Pulli leisteten und ihre Persönlichkeit hinter einer Marke versteckt haben. Mir ging es darum, meine eigenen Unzulänglichkeiten zu überwinden. Ich ging in die Offensive und wenn ich mir wieder pummelig vorkam, riss ich mir einfach das Shirt vom Körper. Feiere deine Fehler, sei du selbst, mach dir deinen Stil. So handhaben wir das als Shame mit der Musik.

Gewinnst du noch heute an Selbstsicherheit, wenn auf der Bühne wieder mal das Shirt fällt?
Durchaus. Es geht aber gar nicht darum, sondern um Grundsätzliches. Ich wurde in der Schule dafür verarscht, dass ich dick war, Brillen trug und ewig lang Jungfrau war - die Klassiker. Je öfter dir das passiert, umso weniger hast du zu verlieren. Du gehst mit mehr Sicherheit auf eine Bühne, weil dir alles scheißegal ist. Die Leute können dich mit nichts mehr beleidigen, was du nicht schon x-mal davor gehört hast. Ablehnung und Zurückweisung sind die besten Lehrmeister.

Ist es für die Kreativität und den Hunger nach Kunst nicht nachteilig, weil man ständig an Popularität gewinnt und die finanzielle Situation immer stabiler wird?
Es entsteht daraus eine andere Art von Hunger. Heute herrscht viel mehr Druck als früher, das ist auch nicht immer dienlich. Es geht um den Wettbewerb. Wir wollen immer besser werden, gerade wenn Freunde von uns richtig gute Tracks abliefern. Dieser Gedanke muss dich immer antreiben, das ist wichtig.

Siehst du dich mit deinen Jungs in 50 Jahren auch in einer Live-Diskussion sitzen und das ca. 40. Studioalbum präsentieren, wie es die Rolling Stones vor wenigen Wochen machten?
Auf keinen Fall. (lacht) Ich habe keine Ahnung, wohin es uns treiben wird, aber das ist für mich nicht vorstellbar. Ich hatte auch nie einen Plan B, denn wir haben schon immer alles auf eine Karte gesetzt. Wenn wir touren, dann touren wir. Wenn wir schreiben, dann schreiben wir. Wir haben ein hohes Arbeitsethos und fokussieren uns immer auf eine Sache. Schwierig waren die Covid-Jahre, bei denen wir alle schauen mussten, wie wir über die Runden kommen. Unser Gitarrist Eddie hat als Fahrradkurier gearbeitet, Drummer Charlie hat sich im daheim im Pub wieder hinten den Tresen gestellt. Ich male gerne und hatte das Glück, dass ich mit dem Verkauf von Bildern über die Runden kam. Außerhalb der Kultur oder Kunst käme für nichts infrage. Ich bin nicht gut in Mathe ...

Shame sind heute Abend (Freitag, 17. November) Headliner des Europavox-Festivals im Wiener WUK. Ebenfalls mit an Bord: Lucy Kruger & The Lost Boys, Pom Poko und Mnnqns. Morgen geht es weiter mit der belgischen Indie-Band The Haunted Youth, den heimischen Durchstartern Bipolar Feminin, Koikoi und Ada Oda. Unter www.oeticket.com gibt es noch Karten und alle weiteren Infos - oder direkt an der Abendkassa im WUK.

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