Lager in Graz-Liebenau

15.000 NS-Zwangsarbeiter bekommen einen Namen

Steiermark
10.03.2023 18:00

Tausende Meldekarteien von Menschen, die in der NS-Zeit nach Graz verschleppt worden waren, wurden nun in einer Datenbank erfasst und ausgewertet. Einem Forscherteam gelang, Licht in ein dunkles Kapitel steirischer Geschichte zu bringen.

„Alle schlafen!“, „Was ist los, Kerl!“, „15 Peitsche!“, „2 Uhr Kniebeuge! Los!“ Diese und andere Befehle, die die Aufseher brüllten, notierte Ivan Anosov in ein Büchlein. Dann übersetzte er sie ins Russische - sie sollten ihm und anderen Zwangsarbeitern als „Wörterbuch“ dienen. Anosov wurde 1914 im sowjetischen Maniv geboren und wurde im August 1942 nach Graz verschleppt, wo die Nazis ihn in Baracke 170 des Lagers Liebenau unterbrachten. Laut seiner noch erhaltenen Meldekarte fungierte er dort als Hilfsarbeiter, später, nachdem er ins Lager Murfeld II überstellt worden war, schrieb ein Beamter die Berufsbezeichnung „Chemiker“ darauf.

Ebenfalls Zwangsarbeit in Graz verrichten musste eine Ukrainerin, die in einem Transport im Alter von nur 17 Jahren auf das Gebiet des heutigen Österreichs kam. Ihre Unterkunft: das Lager Liebenau. 580.000 Menschen aus fast allen Ländern Europas wurden in die damalige Ostmark gebracht, wo die Nationalsozialisten sie als „Fremdarbeiter“ einsetzten und ausbeuteten. Vor allem die Kriegswirtschaft profitierte.

Das sind nur zwei von mehr als 15.000 vergessenen Schicksalen, die im Rahmen eines Forschungsprojektes des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung (BIK) und der Universität Graz nun an die Öffentlichkeit kamen - und Licht in ein dunkles Kapitel steirischer Geschichte bringen. „Wer waren die Menschen? Wo leisteten sie Zwangsarbeit? Was wurde aus ihnen? Das waren Fragen, die wir uns stellten“, berichtet Projektleiterin Barbara Stelzl-Marx.

15.000 Zwangsarbeiter nach Graz verschleppt
Auskunft gaben die 15.300 - im Grazer Stadtarchiv verwahrten - Karteikarten der Behörden im Dritten Reich. „Meldungen über Herkunft, Unterbringung und Verwendung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter flossen in eine Datenbank ein. Mit ihr ist es auch gelungen, das Netzwerk der NS-Lager in Graz erstmals zu rekonstruieren“, sagt die Historikerin. Projektkoordinator Martin Sauerbrey-Almasy sieht mit der im deutschsprachigen Raum einzigartigen Erschließung der Dokumente eine gute Basis für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung.

190 verschiedene Berufe auf Karteien vermerkt
Welche Erkenntnisse liegen bereits vor? Menschen aus mehr als 40 Nationen - die meisten stammten aus Russland und Italien - wurden in die Murmetropole gebracht und wohnten dort an 700 Adressen. Oft in privaten Haushalten oder gleich in den Betrieben, wo sie schufteten. Sie mussten insgesamt 190 verschiedene Berufe ausüben, 40 Prozent aller Personen setzte man als Hilfsarbeiter ein. Weitere große Gruppen waren Schlosser und Tischler. Ihre „Einsatzgebiete“: die Grazer Rüstungsindustrie mit beispielsweise Steyr-Daimler-Puch oder die Landwirtschaft. Viele Frauen waren auch als Dienstmädchen bei Grazer Familien tätig.

Aus der Datenbank geht zudem hervor, dass mindestens 150 Kinder von Zwangsarbeiterinnen in Graz geboren wurden und hier ihre ersten Lebensjahre verbrachten. „Diese Menschen dürfen nicht vergessen werden. Es ist unsere Verpflichtung aufzuklären und zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt“, mahnt Kulturstadtrat Günter Riegler.

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