Land des Stillstands

Ärger vorm Fest: Streikwelle lähmt Großbritannien

Ausland
20.12.2022 08:16

Der wichtigste Blick vor Weihnachten gilt in Großbritannien nicht dem Adventkalender, vielmehr gibt der Streik-Kalender den Takt vor. Im Dezember gibt es kaum einen Tag, an dem nicht in irgendeiner Branche aus Protest gegen niedrige Löhne und schlechte Bedingungen die Arbeit ruht. Das öffentliche Leben steht still, die Streiks bremsen das Land aus.

Man kann den Streik-Kalender willkürlich öffnen, irgendwas findet sich bestimmt: Am Dienstag ist es erneut das Klinikpersonal, am Mittwoch streiken die Rettungswagenfahrer. Auch Touristen sind betroffen: Von Freitag an gehen die Grenzbeamten in den Ausstand - bis Silvester dürfte es lange Warteschlangen bei der Einreise geben, teilweise werden wohl Flüge gestrichen. Von Heiligabend an fahren dann wieder tagelang kaum Züge, auch beim Eurostar zwischen London und der EU könnte es zu Problemen kommen. Ohne Auto die Verwandten zum Festschmaus zu besuchen, dürfte so gut wie unmöglich werden.

Post kommt höchstens einmal pro Woche
Beispiel Weihnachtspost: Bei der Royal Mail gibt es seit Monaten immer wieder Streiks. Ganze Straßenzüge erhalten derzeit höchstens einmal pro Woche Post. Bergeweise liegen Briefe und Päckchen in den Depots. Kürzlich machte die Nachricht die Runde, Royal-Mail-Manager sollten Verwandte und Freunde rekrutieren, um beim Sortieren zu helfen und so den Rückstau vor Weihnachten wenigstes etwas abzubauen.

Chaos in Spitälern
Wer aber bei zuletzt eisigen Temperaturen nach dem Postboten Ausschau hielt, musste allerdings aufpassen, nicht bei Glatteis auszurutschen, denn die ohnehin völlig überlasteten Notaufnahmen waren noch ausgedünnter als sonst. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte streikten nämlich auch die Pflegekräfte des Gesundheitsdiensts NHS. Damit wollen sie für die katastrophale Situation, die viele Menschen trifft, Bewusstsein schaffen: Mehr als sieben Millionen Menschen warten auf Routineeingriffe, Notärzte brauchen deutlich länger als geplant, und vor den Notaufnahmen stauen sich die Krankenwagen.

Verhärtete Fronten
Aussicht auf Besserung: Fehlanzeige. Die Fronten sind verhärtet. Miteinander geredet wird kaum, das liegt auch an den tiefen ideologischen Gräben. „Die Gewerkschaften stehlen uns Weihnachten“, klagt die konservative Presse. Premierminister Rishi Sunak betont: „Ich bin wirklich enttäuscht, dass die Gewerkschaften zu diesen Streiks aufrufen, vor allem an Weihnachten, vor allem wenn es solche Folgen für den Alltag der Menschen hat.“ Die Regierung betont regelmäßig, es sei einfach kein Geld mehr da - nach den Corona-Hilfen.

Zitat Icon

Die Gewerkschaften stehlen uns Weihnachten.

Klage der konservativen Presse

Die Regierung wird von Tory-Hardlinern vor sich hergetrieben, die möglichst wenig staatliche Eingriffe wollen und die Vorzüge des Kapitalismus predigen. Die Gewerkschaften wiederum stehen klar auf Seite der oppositionellen Labour-Partei, die erstmals seit vielen Jahren wieder die Chance auf einen Machtwechsel wittert. „Die Einkommen von Familien wurden durch steigende Rechnungen und mehr als ein Jahrzehnt niedriger Löhne geschreddert“, erklärt Frances O‘Grady, Chefin des Gewerkschaftsbundes TUC, ihre Unterstützung für die Streiks. Verantwortlich dafür sei die verfehlte Tory-Politik. Die Streikwelle könnte noch weit bis ins nächste Jahr dauern.

Heftige Wirtschaftskrise
Dass der Konflikt nicht einfach zu lösen ist, liegt am Hintergrund: Großbritannien steckt in einer heftigen Wirtschaftskrise. Die Inflation ist mit rund elf Prozent so hoch wie seit 40 Jahren nicht, die hohen Preise für Lebensmittel und Energie stürzen Millionen Menschen in Armut, die Tafeln kommen der rekordverdächtigen Nachfrage nicht mehr hinterher. Laut einer TUC-Studie werden 2022 die Reallöhne um drei Prozent sinken - so viel wie seit 1977 nicht mehr. Von einer „Schande“ spricht TUC-Chefin O‘Grady. Die Aussichten geben wenig Anlass zur Hoffnung: Ökonomen rechnen mit einem langen Abschwung, mindestens bis Ende 2023.

„Brexit“ doch ein riesiger Fehler?
Großbritannien steht mit diesen Problemen nicht alleine da, weltweit hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine schwere Folgen ausgelöst. Doch scheint Großbritannien noch stärker getroffen zu werden. Das liegt auch am „Brexit“, wie Experten betonen. Der Warenaustausch mit dem wichtigsten Handelspartner, der EU, ist eingebrochen. Der Fachkräftemangel hat sich ohne Arbeiter aus der EU noch verstärkt.

Die Realität widerspricht allen Szenarien, die die „Brexit“-Befürworter einst in Aussicht gestellt hatten. Lebensmittel und Energie sollten günstiger werden, gut bezahlte Jobs einfacher für Briten zu ergattern sein. Millionen sollten in den Gesundheitsdienst anstatt nach Brüssel fließen, die „Brexit-Freiheiten“ das Königreich wieder zur Handelsnation machen. Bisher ist nichts eingetreten, auch deshalb hält mittlerweile mehr als die Hälfte der Bevölkerung den EU-Austritt für einen Fehler. Die Regierung um Premier Sunak will davon nichts wissen. Ihr Mantra: Die Probleme seien alle durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine entstanden.

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