Live in der Stadthalle

Die Kelly Family: Der letzte Rest vom Schützenfest

Wien
13.12.2022 23:48

Für rund 4000 treue Fans der Kelly Family fand die Weihnachtsbescherung schon eineinhalb Wochen vor dem großen Fest statt. Bei ihrer ersten Wien-Show seit Ausbruch der Pandemie köpfelte das auf ein Sextett geschrumpfte Kollektiv tief in eine Welt voller Kitsch und Pathos. Ein Erlebnis für alle Sinne.

Sie kennen das bestimmt. Der Chef lobt Sie in höchsten Tönen, bejubelt Ihren Eifer und Ihre Arbeitskraft und lobpreist Sie als unersetzlich. Eine Management- oder externe-Unternehmensberaterentscheidung später sieht die Welt ganz anders aus und es folgt der Gang zum Arbeitsamt. Von wegen unersetzbar. Von wegen Lobpreisung. Ganz so schlimm geht es ex-Mitgliedern der irisch-deutschen Neo-Hippie-Kommune der Kelly Family freilich nicht, aber wenn hie und da mal wieder jemand wegbricht, ist die Trauer meist von kurzer Dauer. Michael Patrick hat das Leben so verstört, dass er nach seinem Abschied 2004 erst einmal zum Mönch mutierte, bevor er eine Solokarriere einschlug, mit der er alle anderen längst überholt hat. Maite suchte 2008 das Weite und fragt sich mit Roland Kaiser öfters, warum sie denn nicht nein sagte. Schlagzeuger Angelo zog schlussendlich 2020 von dannen und bugsiert seitdem seine eigenen Kinder auf die Bühne, was er aus familiärer Betriebsblindheit so vehement tat, dass gar das Gericht einschreiten musste.

Illustre Schar
Übrig bleibt der letzte Rest vom Schützenfest und der lockt mit einem familiären Weihnachtsprogramm immer noch stolze 4000 Fans in die Wiener Stadthalle. Vor fast genau drei Jahren waren es an derselben Stelle zwar noch dreimal so viele, aber da setzte man auch auf ein dezidiertes Best-Of-Programm. Wer ist nun noch dabei? Ausdauersportler Joey ist als optische Mischung zwischen Axl Rose und Kid Rock anzusiedeln, Patricia und John führen als Sprechorgane durch den Abend, Matrone Kathy kommt zum Einsatz, wenn es rustikal und stimmkräftiger werden soll, der freundliche Jimmy ist so lieb und nett, dass er fast unsichtbar wirkt, und der in den USA geborene Paul bleibt das Familienkuriosum. Mit Knickerbockern und Rauschebart changiert er zwischen Weihnachtsmann und dem Clowns-Kostüm von Serienmörder John Wayne Gacy. Er ist nicht Johns Vater oder Großvater, sondern nur sein drei Jahre älterer Bruder. Sachen gibt’s.

Weihnachtslieder schallen schon im Intro vom Band, zum gemeinschaftlichen Opener „One More Happy Christmas“ rieselt es (nicht zum letzten Mal) Schneeflocken von der Decke und mit der opulenten Lichtshow könnte man wahrscheinlich auch ein Stadionkonzert ausleuchten. Die fetten Jahre der Kellys mögen vorbei sein, in ihrem eigenen Selbstverständnis spielen sie aber immer noch vor einer sechsstelligen Zahl Begeisterter auf dem Donauinselfest. Was den heimischen Fußballfans ihr Cordoba, ist den Kellys die Erinnerung an die Hochzeit in den 90ern, wovon im Schlussdrittel des Konzerts das immer noch flotte „Fell In Love With An Alien“ samt rührender Nostalgiebekundungen zeugt. Bis dorthin muss man aber gute eineinhalb Stunden durchhalten. Das geht unter dreierlei Umständen: a) man ist bedingungsloser Fan der Kellys, b) man liebt Weihnachten und seinen Glanz mehr als seine eigene Familie oder c) man hat einen lieben Menschen mit dem Konzert beschenkt und erduldet das Dargebotene mit pulsierenden Krampfadern.

Heilandsbeschwörung
Manchmal muss man das rein objektiv. Etwa wenn sich Joey, der vielleicht schillerndste, aber stimmschwächste in der Bande, holprig durch „No More Christmas“ stottert oder Jimmy der erst im letzten Jahr an einer Lungenembolie verstorbenen Schwester Barby ein Lied widmet, sich dabei aber am Versuch, die Themen Weihnachten, Tod und Gemeinschaft in einer Ansprache zu verbinden, mit völlig unpassendem Humor verhebt. Es folgen große Gesten. Die erst unlängst veröffentlichte Single „Peace On Earth“ soll dem Weltfrieden in dieser furchtbaren Zeit dienen, beim Klassiker „El Camino“ sinkt Sänger John derart theatralisch auf die Knie, dass ihm fast die Tränen kommen. Pathetisch und höchst emotional waren die Kellys schon immer, doch wenn John mit sektiererischer Ambient-Musik im Hintergrund ein Weihnachtsmedley ansagt und die ganze Halle als große Familie bezeichnet, ist der 2019 abgehaltene Gottesdienst für Sebastian Kurz an selber Stelle nicht mehr weit entfernt. Hier und dort beschwört man den Heiland.

Schon nach 80 der insgesamt 120 Minuten Konzertvergnügen haben die Kellys drei Mal die Konfettikanonen und einmal Springschlangen abgeschossen. Der Wechsel zwischen flotten Tracks und emotionalen Balladen erfolgt so hurtig im Zick-Zack-Stil, dass auch das Publikum nie weiß, ob es nun sitzen oder stehen soll. Völlig obskur wird es im Greatest-Hits-Teil am Ende des Sets, wenn Joey bei „The Wolf“ und „Why Why Why“ aufdreht. Der „wilde Kelly“ rockt mit dicken Riffs im Metallica-Stil, dahinter schunkeln vom Auditorium auf die Bühne gebrachte Kinder überfordert unrhythmisch mit, während Rauschebart-Kobold Paul Kelly in seinem schottischen Karo-Aufzug lustige Tänze wagt und später Süßigkeiten ins Publikum wirft. Ein Fiebertraum ist nichts gegen diese absurde Szenerie, die man wahrlich als Mahnmal künstlerischer Anarchie bezeichnen kann. Die Grenzen zwischen Kitsch und Chaos fließen bis zur Unkenntlichkeit ineinander.

Einfach weitermachen
Songs wie „Nanana“ oder die Tränen-Ballade „Angel“ genießen zurecht Kultstatus, die Choreografien und Visuals auf der Bühnenleinwand sein großartig gelungen und auch die vierköpfige Band ist mehr als ausschmückendes Beiwerk. Patricia erzählt dazwischen launig, wie sie sich im Sommer als Drei-Tages-Praktikantin in Schönbrunn verdingte und ein Baum dort nun „Kelly“ heißt, während Kathy mit einer fast Tina-Turner-artigen Version von „Break Free“ für eines der absoluten Highlights des Abends sorgt. Die Fans, ausgestattet mit Weihnachtshauben und Leuchtkronen vom üppigen Merch-Stand, sind zurecht begeistert, denn diese mehr an ein Musical denn an ein Konzert erinnernde Sinnesüberforderung spielt wirklich alle Stücke. Man muss aber stets der Tatsache ins Auge blicken, dass die Familie eine gut geölte Maschinerie ist, bei der wenig Platz für echte Gefühle bleibt. „Mama sagte immer: ,Keep on singing‘, egal was kommt“, erzählt Jimmy während des Gigs. Dem ist nichts hinzuzufügen.

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