„Krone“-Interview

EU-Migrationskommissar: „Schultern das gemeinsam“

Ausland
05.03.2022 06:00

Kreml-Chef Wladimir Putin schreckt vor nichts zurück. Jede Kriegsnacht stellt mit ihrem Schrecken die vergangene in den Schatten. Die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine beläuft sich nach Angaben der UNO-Organisation für Migration (IOM) inzwischen auf 1,25 Millionen. Im Interview mit der „Krone“ erklärt Margaritis Schinas, EU-Kommissar für Migration, den Plan Europas für Flüchtlinge aus der Ukraine.

„Krone“: Herr Vizepräsident, war die EU in Bezug auf die russisch-ukrainische Krise blind, hat man Putin unterschätzt?
Margaritis Schinas: Ich glaube, im Fall Putin steht die EU in der Welt nicht alleine da. Putin ist unvorhersehbar und ein unzuverlässiger Spieler. Und es ist immer sehr schwierig, mit unzuverlässigen und unberechenbaren Spielern zu arbeiten. Was aber jetzt zählt, ist nicht der Ursprung des Krieges. Was jetzt zählt, ist, wie wir sowohl vor Ort den Ukrainern helfen können, als auch den Menschen, die flüchten. Zugleich muss sich die EU als Kraft des Guten und der Stabilität positionieren.

Sie waren gerade an der ungarisch-ukrainischen Grenze. Wie ist die Lage? Wie sieht es mit der Flüchtlingsverteilung aus?
Was an den Grenzen passiert, ist unglaublich bewegend. Es sind meist Frauen und Kinder, die zu Fuß ankommen, begleitet von ihren Ehemännern, Vätern und Freunden, die umkehren, um zu kämpfen. Der Ablauf ist sehr geordnet, die Menschen werden empfangen und registriert und erhalten die Hilfe, die sie benötigen. Es ist wirklich bemerkenswert zu sehen, wie Hunderte ungarische Polizisten, Grenzschützer und andere Beamte, Organisationen und ungarische Bürger den Ankommenden aus der Ukraine an der Grenze und in den Bahnhöfen in Budapest helfen. Der Bürgermeister einer der Grenzstädte hatte Tränen in den Augen, als er erzählte, wie sie Freizeiteinrichtungen und Gemeindehäuser in der Umgebung in Ankunfts- und Hilfszentren umgewandelt haben - mit enorm vielen Spenden an Windeln, Decken und Lebensmitteln aus der Bevölkerung. Die Europäische Union wird diese Bemühungen mit ganzer Kraft und allen verfügbaren Mitteln - rechtlich, personell und finanziell - unterstützen.

Wie wird Österreich davon betroffen sein?
Österreich war bei den jüngsten europäischen Ereignissen auf der richtigen Seite der Geschichte. Ich erinnere an die immense Hilfsbereitschaft während des Jugoslawien-Krieges. Österreich ist ein Land, das mit gutem Beispiel voranging und durch seine Vorreiterrolle gezeigt hat, wie Europa mit so einer Situation umzugehen hat. Nichts anderes passiert jetzt, nur die Zahlen der geflüchteten Menschen sind größer. Österreich wird nicht der erste Anlaufpunkt sein, aber Bundeskanzler Karl Nehammer versicherte mir bei unserem Gespräch, dass es wieder eine hohe Bereitschaft zur Hilfestellung gibt. Ich halte es für möglich, dass Österreich für seine Hilfe auch viel zurückbekommt, denn diese Menschen sind kompetent, fleißig, zuverlässig und können sich positiv in die österreichische Gesellschaft und den Arbeitsmarkt einbringen.

Die EU will ukrainischen Flüchtlingen ein über einen Zeitraum von vorerst bis zu zwei Jahren ein Aufenthaltsrecht bzw. einen besonderen Schutz gewähren. Nicht aber syrischen oder afghanischen Flüchtlingen.
Ich bin sehr vorsichtig, Situationen zu vergleichen, die nicht gleich sind. In Afghanistan gab es entgegen unserer ursprünglichen Befürchtungen keinen massiven Exodus der Bevölkerung. Ja, viele Menschen mussten eiligst evakuiert werden. Aber es gab keinen Exodus. Wir konnten den Menschen mehr in der Region helfen. Das kann man nicht mit einem Krieg an unserer Grenze vergleichen. Wir machen zum allerersten Mal von diesem besagten Rechtsinstrument Gebrauch, der sogenannten Richtlinie über vorübergehenden Schutz. Das ist das Mindeste, was wir tun können. Das bedeutet, dass diese Menschen Zugang zu unseren Sozialsystemen haben und einen zeitlich begrenzen Schutz. Der Vorschlag der EU-Kommission wurde am Donnerstag von allen 27 EU-Innenministern einstimmig angenommen, nicht einmal einen Tag, nachdem wir den Text vorgelegt hatten. Das ist ein weiterer herausragender Beweis für die geschlossene Haltung Europas bei der Reaktion auf den Krieg in der Ukraine. Die Mitgliedstaaten sagen auch ganz klar, dass die EU-Länder an und nahe der Außengrenze nicht allein gelassen werden und wir das alle gemeinsam schultern.

Warum sind die Menschen so optimistisch, dass erstens der Krieg in der Ukraine so schnell vorbei sein wird und zweitens die Ukraine ein sicheres Land für Rückführungen sein wird?
Wir alle hoffen, dass es rasch zu einem Waffenstillstand in der Ukraine und zu Verhandlungen über die friedliche Zukunft des Landes kommen wird. Und dass das Ergebnis dieser Verhandlungen den geflüchteten Menschen die Rückkehr ermöglicht. Aber in der Zwischenzeit müssen wir in der Lage sein, so viel wie möglich zu helfen.

Sie streben eine Reform der EU-Migrationspolitik an, der aktuelle Ratspräsident Emmanuel Macron forciert diese sehr. Worum geht es da?
Sie müssen meinen Vorschlag als Gebäude mit drei Stockwerken verstehen. Die erste Etage sind die Beziehungen zu den Herkunfts- und Transitländern. Ohne externe Partnerschaften können wir die Migration niemals bewältigen. Wir brauchen also Partnerschaftsabkommen mit Herkunfts- und Transitländern. In der zweiten Etage geht es um starken Außengrenzschutz und eine Anwendung der Asylregeln. Der dritte Stock ist Solidarität und Lastenteilung. Wir müssen als Familie die Verantwortung teilen, anderen Menschen zu helfen. Über den ersten Stock sind sich alle einig, beim zweiten und dritten wird diskutiert. Ich bin der Meinung, die drei Stockwerke müssen gleichzeitig gebaut werden und gleich belastbar sein. Sonst stürzt das Gebäude ein. Aufgrund der Pandemie kamen diese Verhandlungen nicht so schnell voran, wie wir es uns gewünscht hätten. Aber jetzt, da Präsident Macron das persönlich forciert, hoffen wir, dass nun etwas weitergeht.

Macron will das bis Juni, bis zum Ende von Frankreichs Ratspräsidentschaft „durch“ haben.
Ich habe gelernt, mich nicht auf einen Zeitplan festzulegen, aber die Welt um uns herum ist der beste Beweis, dass die EU ein Abkommen über Migration braucht. Wir haben an der griechisch-türkischen Grenze und in Belarus gesehen, was passiert, wenn autoritäre Führer Migranten als Waffe einsetzen. Das ganze Universum fordert Europa auf: „Reißt euch in Sachen Migration zusammen und einigt euch endlich auf eine gemeinsame Migrations- und Asylpolitik.“ Bis jetzt gibt es keine, deshalb arbeiten wir wie Feuerwehrleute und nicht wie Architekten an der Migration.

Zurück zur Ukraine: Die UNO geht von vier Millionen Flüchtlingen aus dem Land aus. Deckt sich das mit Ihren Informationen?
Laut UNHCR werden vier Millionen Menschen vertrieben. 1,2 bis 3,2 Millionen Menschen werden internationalen Schutz suchen. Natürlich hängen diese Zahlen immer mit dem Kriegsverlauf und mit der Situation im Land zusammen. Je früher wir zu einer Art Waffenstillstand oder einer Verhandlungslösung kommen, desto wahrscheinlicher wird es sein, dass weniger Menschen flüchten müssen. Wir müssen abwarten, wie es sich entwickelt.

Zurück zum Aufenthaltsrecht in der EU: Sie sagten, das gilt für jeden Flüchtling, der vom Krieg aus der Ukraine flieht? Somit auch für Flüchtlinge aus Drittländern?
Ich möchte hier ganz präzise sein. Diese Regelung gilt für alle ukrainischen Bürger und all jene, die die Ukraine zu ihrer Heimat gemacht haben. Das heißt, Langzeitansässige oder Menschen, die mit Ukrainern verheiratet sind. Die Bestimmung gilt nicht für beispielsweise Austauschstudenten oder Menschen, die erst vor kurzem in die Ukraine eingereist sind, etwa aus Afrika oder Asien. Diese fallen nicht unter den temporären Schutzstatus. Sie können nicht in der EU bleiben, aber wir werden ihnen helfen, in ihr Herkunftsland zurückzukehren.

Also Sie helfen beispielsweise dem vom Krieg in Syrien in die Ukraine geflüchteten Syrer, wieder nach Syrien zurückzukehren?
Nein, es gibt eine gewisse Flexibilität in den Regeln, sodass jemand in einem solchen Fall auch die Möglichkeit hat, in die EU zu kommen.

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