Zehn Rücktritte

Welle an Sexvideos bringt Erdogans Gegner zu Fall

Ausland
23.05.2011 13:12
Der türkische Parlamentswahlkampf gleitet auf der Zielgeraden in eine beispiellose Schlammschlacht ab. Mit kompromittierenden Videos sind in den letzten Wochen nacheinander Parteigranden der nationalistischen Oppositionspartei MHP abgeschossen worden. Zuletzt traten am Wochenende sechs weitere Spitzenfunktionäre zurück. Unklar ist die Rolle der Regierungspartei AKP von Premier Recep Tayyip Erdogan (re.). Sie profitiert von dem Skandal, weist aber jegliche Mitwirkung von sich.

Der Mann auf dem Sofa will etwas Besonderes von der Frau, die neben ihm liegt. "Zieh' dir einen Schleier an, das macht mich an, das glaubst du gar nicht", sagt Recai Yildirim, bis vor kurzem einer der Vizeparteichefs der MHP, in dem Video. Die Frau lacht, ein anderes Pärchen im Zimmer kichert mit. Später wird noch etwas geknutscht auf dem Sofa. Ein anderes Video zeigt einen weiteren Vize, Mehmet Ekici, unzensiert beim Seitensprung (li.).

Die Szenen, durch Gucklöcher in Decken und Mauern mit versteckter Kamera aufgezeichnet und im Internet veröffentlicht, gehören zu einer ganzen Serie von Videos, die seit Wochen nicht abreißt. Die (Soft-)Pornos könnten die politische Landschaft der Türkei nachhaltig verändern - und sogar Auswirkungen auf den Inhalt der geplanten neuen Verfassung des EU-Bewerberstaates haben.

Vom Frauenpolitiker zum Sexvideo-Protagonisten
Vizeparteichef Yildirim, der ausgerechnet für Frauen- und Familienpolitik zuständig war, ist inzwischen zurückgetreten, genauso wie sein ebenfalls auf dem Video zu sehender Kollege Metin Cobanoglu und acht weitere führende MHP-Funktionäre, die in anderen Aufnahmen zu unfreiwilligen Hauptdarstellern wurden. Selbst Generalsekretär Cihan Pacacihat und seinen Stellvertereter Mehmet Tytak hat es am Samstag beim jüngsten Massenrücktritt erwischt.

Für die Nationalistenpartei, die sich als Verein ehrenhafter Patrioten und Saubermänner präsentiert, sind die Videos eine Katastrophe. Der Skandal könnte die MHP am Wahltag unter die Zehnprozent-Hürde drücken und damit aus dem Parlament fegen. Sie liegt in den Umfragen ohnehin bei höchstens 15 Prozent, ihre konservativen Wähler sind wütend und verunsichert.

MPH-Absturz könnte Erdogan Absolute verschaffen
Hauptnutznießer eines Absturzes der MHP wäre wahrscheinlich die religiös-konservative Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Erdogan. Dass die AKP die Wahl am 12. Juni gewinnen wird, gilt angesichts eines Stimmenanteils von rund 45 Prozent in den Umfragen ohnehin als ausgemacht. Sollte die MHP aus dem Parlament fliegen, könnte sich der Anteil der AKP-Sitze in der neuen Legislaturperiode von derzeit 331 auf mehr als 367 erhöhen. Damit hätte die AKP eine Zweidrittel-Mehrheit, was ihr angesichts der nach der Wahl anstehenden Beratungen über eine neue Verfassung für die Türkei eine wichtige Machtposition einräumen würde.

Deshalb sehen Erdogans Kritiker die Regierung hinter dem Skandal. Einer der zurückgetretenen MHP-Funktionäre sprach von einem politischen "Mordanschlag im Auftrag der AKP". MHP-Chef Devlet Bahceli deutete an, dass er regierungsnahe Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen im Verdacht hat. Beweise konnten die Regierungsgegner aber bisher nicht vorlegen.

Angriff von außen oder Sabotage von innen?
Offiziell sollen die Videos auf der Website von MHP-internen Dissidenten veröffentlicht worden sein, die nach eigenen Angaben den Rücktritt von Bahceli erzwingen wollen. Die "Anderen Nationalisten", wie sie sich nennen, werfen dem Parteichef eine inhaltsleere Klüngelpolitik vor. Bahceli und seine Leute müssten weg, damit sich die Partei erneuern könne. Doch wer die "Anderen Nationalisten" sind, weiß bisher niemand, die Website wurde inzwischen auf behördliche Anordnung gesperrt, die Videos haben sich bis dahin aber schon längst im Netz verteilt.

Es ist nicht das erste Mal, dass Videos von außerehelichen Affären türkische Spitzenpolitiker zu Fall bringen. Im vergangenen Jahr trat Deniz Baykal, der langjährige Vorsitzende der größten Oppositionspartei, der linksnationalen CHP, nach einem ähnlichen Skandal zurück. Auch Baykal beschuldigte damals die Regierung - doch er galt selbst bei den eigenen Anhängern als verbohrter Betonkopf ohne Hoffnung auf Mehrheitsfähigkeit, war für Erdogan also ein idealer, weil ungefährlicher Oppositionschef. Viele Beobachter sind deshalb sicher, dass Baykal von parteiinternen Gegnern bloßgestellt wurde, die ihn loswerden wollten.

AKP lenkt Aufmerksamkeit von sich
Laut Beobachtern ist es allerdings fraglich, ob Erdogan wirklich das Risiko eingehen würde, die MHP mit schmutzigen Tricks zu attackieren. Allein die Diskussion über eine Verwicklung der AKP in den Skandal könne der Regierungspartei mehr schaden als nützen. Schon bringt Erdogan die Theorie ins Gespräch, die "Videoshow" sei in Wirklichkeit von militanten Regierungsgegnern der mutmaßlichen Putschistengruppe Ergenekon angezettelt worden: Letztes Jahr hätten diese dunklen Kräfte die CHP nach ihren Wünschen neu geformt, jetzt sei die MHP an der Reihe. Erdogans AKP-Granden rücken sogar zur Verteidigung der MHP-Politiker an. So bezeichnete Parlamentspräsident Mehmet Ali Sahin die Videoattacken als "ehrlos".

Ein Ende ist nicht in Sicht. Angeblich warten zwei weitere Videos und ein Tonbandmitschnitt auf ihre Veröffentlichung. Bis zum Wahltag dürfte die Skandal-Serie in der Türkei also weitergehen.

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