„The Boy Named If“

Elvis Costello: Lebensrückschau ohne Rührung

Musik
13.01.2022 06:00

Im Herbst seiner Karriere startet der Wahl-New-Yorker Elvis Costello noch einmal seinen kreativen Turbo. Auf dem neuen, mit seiner Band den Imposters aufgenommenen Album „The Boy Named If (And Other Children‘s Tales)“ blickt der 67-Jährige ohne Nostalgie und Sentiment auf die Unschuld und Naivität der Kindheitstage zurück. Musikalisch so schwungvoll und dreckig wie lange nicht mehr.

(Bild: kmm)

Wer an die 2010er-Jahre zurückdenkt und nicht selbst ehrfürchtiger Fan ist, hat von Elvis Costello wenig mitbekommen. Das famose „Wise Up Ghost“ mit den fantastischen Roots im Jahr 2013, aber ansonsten blieb es eher ruhig um Elvis aka Declan MacManus, der einer breiteren Publikumsschicht noch vor dem Millennium mit seinem Auftritt bei „Austin Powers 2“ zugänglich wurde. Gemeinsam mit seinem Freund und Legende Burt Bacharach verzauberte er den Song „I’ll Never Fall In Love Again“ mehr als 30 Jahre nach seinem Ursprung für eine jüngere Generation. Costello war zu dieser Zeit verstärkt ins Jazzig-Verschrobene und Balladenhafte gewechselt und ließ seiner alten Liebe zum New-Wave-geschwängerten Pub Rock nur mehr äußerst selten freien Lauf. Doch plötzlich ging es schnell. 2018 das Quasi-Comeback „Look Now“ samt Grammy, eine überstandene Krebserkrankung und 2020 dann „Hey Clockface“, dessen Ursprünge vor Covid noch in drei verschiedenen Städten steckten.

Rückschau ohne Sentiment
Costello war plötzlich nicht nur wieder fleißig und omnipräsent, er hatte auch sein kompositorisches Mojo wiedergefunden. Schnell, knackig, vielseitig. Grund genug, sich während Corona wieder mit seinen Imposters zusammenzutun, um nur ein gutes Jahr nach „Hey Clockface“ schon das nächste Album ins Rund zu werfen. „The Boy Named If (And Other Children’s Tales)“ ist ein Rutsch in die eigene Kindheit, ohne dabei nostalgisch zu sein, wie uns der 67-Jährige im Interview mit Nachdruck vermittelt. „Nostalgie bedeutet, sich irgendwohin zurückzusehnen. Das tue ich nicht. Ich lebe immer voll und ganz im Hier und Jetzt. Das Album ist auch nicht sentimental, das wäre überhaupt das Schlimmste gewesen.“ Für Costello gilt es die Begriffe Nostalgie und Vergangenheit nicht zu vermischen. „Ohne aus der Vergangenheit zu schöpfen, würde es keine Kreativität geben. Das Sentiment der Nostalgie hat bei mir aber keinen Platz.“

Diese Frische und die unbändige Lust aufs Gaspedal merkt man „The Boy Named If“ nahezu durchgehend an. Mit „Paint The Red Rose Blue“ und dem abschließenden „Mr. Crescent“ füttert der in New York wohnhafte Brite nur selten die Liebhaber reduzierter Faserschmeichlereien, ansonsten ist vorwiegend Hochgeschwindigkeit Programm. Die naive Unschuld ist nicht zuletzt im Comic-artigen Cover-Artwork und den dazugehörigen Videos verewigt. Weitere untrügliche Beweise dafür, dass Costello im Herbst seiner Karriere noch einmal richtig Lust auf ungezwungene Gitarrenlastigkeit hat. Der Song „Penelope Halfpenny“ ist etwa eine lose Hommage an eine Lehrerin, die der Musiker in der Grundschule hatte. „Ich habe das Album ganz alleine auf der E-Gitarre begonnen, fünf Songs so weit wie möglich dafür entwickelt und dann ein Album daraus kreiert, das die Imposters einspielen sollten.“

Ehen und Scheidungen
Der Grund für die durchwegs fetzige Musik liegt dann doch wieder in der Vergangenheit begraben. Costello hat sein 1978 erschienenes Kultwerk „This Year’s Model“ mit unterschiedlichen Stimmen noch einmal komplett neu für den spanischsprachigen Markt eingespielt und sich damit den entscheidenden Zündfunken für „The Boy Named If“ verpasst. „Mir kamen die Ideen für das Album in extrem kurzer Zeit und ich wollte sie so schnell wie nur möglich umsetzen. Die Jungs von den Imposters und ich kennen uns so gut, dass wir auch aus der Ferne ein tolles Album zusammenstellen können. Steve Nieve und Pete Thomas kenne ich länger als 40 Jahre. Wir haben zusammen Ehen, Touren und Scheidungen erlebt. So dreht sich schlussendlich auch das Album um Ängste, Melancholie, Freude und all die Emotionen, die wir als Kinder und Kind gebliebene erlebt haben.“

Das „If“ im Albumtitel steht übrigens für einen Spitznamen eines imaginären Freundes, den Kinder meist haben. Bei Costello hat sich das damals anders entwickelt. „Ich hätte diese Gesellschaft durchaus begrüßt, aber mir war sie nicht vergönnt. Ich hatte als Kind einen Schutzengel, was reichlich seltsam war. Stell dir einfach mal vor, du bist ohnehin schon ein Außenseiter, und dann auch noch einer, bei dem die ganze Zeit ein Geist herumfliegt.“ Für das Album wollte Costello auch die wundervolle Vorstellungskraft eines Kindes hervorholen. „Ein Kind ist komplett frei. Es ist voller Selbstvertrauen und ganz ohne Angst, weil jeder gesetzte Schritt natürlich erscheint.“ Irgendwann ist es damit unweigerlich vorbei, wie der Song „The Death Of Magic Thinking“ aussagt. „Plötzlich rücken Begierden, Verluste und Unsicherheiten in das vorher so freie und unschuldige Leben. Teenager wollen dann über Fußball, Mädels und Rock’n’Roll reden und sich nicht die Kunst der Trigonometrie aufbürden. Die große Unschuld ist vorbei.“

Freiheit zur Sinnlosigkeit
Auf „A Boy Named If“ bietet jeder einzelne Song einen Platz für eine Szene aus der Vergangenheit eines Menschen an. „Das Leben gibt dir oft viele Versprechungen, die es dann nicht einhält. Man hofft, dass diese oder jene Lebensphase grandios wird, aber die Realität ist dann doch nicht so romantisch. Das ist ein Teil des Erwachsenwerdens und gehört unweigerlich dazu.“ Costello geht es mit dem Album aber auch nicht darum, noch einmal das innere Kind rauszulassen. „Für mich klingt das so seltsam. Als würde man sich selbst ein Alibi für etwas ausstellen. Ich nenne das lieber ,den inneren Idioten‘. Manchmal muss man sich im Leben einfach die Freiheit geben, Dinge zu tun, die absolut gar keinen Sinn machen. So wie etwa das Gitarrensolo beim Song ,Magnificent Hurt‘. Das macht auch keinen Sinn, aber es musste sein.“

Auch nach mehr als 40 Jahren im Musikbusiness sieht sich Costello in erster Linie als Instinktmusiker, für den Pläne und besondere Ziele nur eine Belastung darstellen. „Ich habe kein Bewusstsein dafür, was ich mache und was nicht. Bei mir passiert alles ohne Vorsatz. Meine Karriere ist dafür doch das beste Beispiel oder nicht? Schon früh in meiner Karriere wollte ich nach Nashville, um einen Country-Song mit einem Streicherquartett einzuspielen. Das hat niemand verstanden und vielleicht Erfolg gekostet. Aber all meine Kollaborationen in der Musik entstanden aus Neugierde, Freundschaft und der Tatsache, dass ich das Gegenüber achte und schätze. Ich habe auch nur wenige treue Fans, viele kamen und gingen wieder, aber es war immer jemand da. Dafür bin ich dankbar. Hätte ich 45 Jahre lang die gleiche Strophe wiederholen sollen? Sicher nicht. Ich wollte immer dazulernen.“

Keine Lust aufs Manifest
Die raue Energie und Unbesonnenheit der jungen Tage möchte sich Costello im wohl wieder schwierigen Jahr 2022 bewahren. Optimismus lautet das Credo, denn was bleibt einem schon sonst übrig? „Wenn ich früher einfach Lust hatte, in London einen spontanen Gig zu spielen, dann war immer ein Club oder Keller frei. Damit ist es endgültig vorbei, denn die Konzertvenues sind durch die Verschiebungen teilweise über Jahre hinweg reserviert. Deshalb verschiebe ich auch meine Tour immer, denn würde ich sie ganz absagen, stünde ich in der Warteschlange wieder ganz hinten.“ Corona macht eben auch für honorige Elder Statesmen des Pop-Business keine Ausnahme. „Ich bin keiner von jenen, die ein Manifest für oder gegen Corona verfassen. Ich will einfach wieder auf die Bühne und sobald das möglich ist, werde ich es tun.“ Pragmatisch, motiviert, cool. Vielleicht braucht die Welt 2022 einfach mehr Elvis Costellos…

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