„Krone“-Interview

Bezeichnung „Risikogruppe“ war für einige negativ

Tirol
05.06.2021 14:00

Schon vor der Coronakrise hatten es Menschen mit Behinderungen im Grenzraum Tirol - Bayern nicht einfach. Lukas Kerschbaumer vom Management Center Innsbruck (MCI) sprach mit der „Krone“ über ein grenzübergreifendes Projekt, das diesen Missstand deutlich macht.

Wie kam es zu dem Projekt und der Zusammenarbeit mit der Diakonie Rosenheim?
Das MCI und die Diakonie Rosenheim kooperieren schon länger, eines der Kleinprojekte behandelte die Vernetzung von Dienstleistern von Menschen mit Behinderungen im Grenzraum Tirol – Bayern. Daraus entstand die Idee, das Thema größer aufzuziehen.

Welche Rolle spielte Corona? Der Projektstart war ja ausgerechnet im April 2020.
Das Projekt wurde eingereicht, als von Corona noch keine Rede war. Irgendwann zeichnete sich die Pandemie ab und wir überlegten uns: „Was, wenn es jetzt durchgeht?“ Doch dann sahen wir, dass die Krise aufzeigte, was wir schon vorher ansprechen wollten – plötzlich gab es etwa wieder harte Grenzen. Wir konzipierten das Projekt neu und dachten uns: „Jetzt erst recht!“

Sie sprachen daraufhin mit direkt Betroffenen – wie lauteten die Rückmeldungen?
Die pauschale Einstufung von Menschen mit Behinderungen als „Risikogruppe“, wenn auch gut gemeint, hatte zur Folge, dass die Lebensrealität und die Fähigkeiten der Betroffenen nicht abgebildet wurden. Massive Schwierigkeiten waren die Folge, etwa am Arbeitsmarkt: Es ist so schon für Menschen mit Behinderung schwer, einen Job zu finden – der Arbeitgeber hat das Gefühl, recht viel zu investieren.

Dann kommen Corona, Kurzarbeit usw. und da soll man sich plötzlich auch noch um eine Risikogruppe kümmern. Viele Arbeitgeber sahen sich der Herausforderung nicht gewachsen, hatten Angst vor unklaren Folgen, wenn es zu einer Infektion käme. Im Extremfall wurde das Dienstverhältnis gelöst bzw. die Kurzarbeit wurde beibehalten, während andere Mitarbeiter wieder zurückgeholt wurden.

Was empfanden Trägereinrichtungen und Angehörige?
Trägereinrichtungen haben nicht mehr Personal, als das Geld hergibt. Die stark ausgelasteten Dienstleister kamen durch Corona in Bedrängnis: Plötzlich waren kleinere Gruppen, Einzelbetreuungen und ständige Tests notwendig. Zum Teil konnten gefährdete Mitarbeiter nicht mehr eingesetzt werden - also 50% Personal bei 200% Aufwand. Viel wurde durch persönliche Motivation und freiwillige Überstunden abgefedert. Die Angehörigen mussten einspringen, wenn für die Betroffenen plötzlich Tagesstrukturen wegfielen - manche kündigten den Job, obwohl unsicher war, ob sie später wieder etwas finden.

Fakten

Für das Forschungsprojekt über „Sozialraumorientierte und inklusive Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der Grenzregion Bayern - Tirol“ kooperierte die Diakonie Rosenheim mit dem MCI. Gefördert wurde es im Rahmen des EU-Programms „Interreg Österreich - Bayern“. Den Grundpfeiler legten 34 Interviews, die zweite Phase war eine Online-Umfrage mit knapp 250 Personen.

Gab es für Betroffene gute Unterstützungsmaßnahmen?
Die Befragten meldeten zurück, dass es eine Art „Härtefallfonds“ zur Kompensation von Personalausfällen bräuchte. Möglicherweise gebunden an Kündigungsschutz oder Vertretungen. Auch eine gesetzliche Regelung für eine Art Pflegekarenz wäre erwünscht.

Was war schlussendlich das Forschungsergebnis?
Bezogen auf Covid verhält es sich wie mit allen anderen Themenfeldern: Direkt Betroffene müssen in Entscheidungsprozesse auf breiter Ebene miteingebunden werden. Gerade beim Prozess der Einstufung von Behinderungen merkt man erst durch eine Pandemie, dass es nicht ideal ist, wenn man auf Pauschalierungen zurückgreifen muss. Das fragile Versorgungssystem war vorher schon angespannt, durch Corona verschärfte sich die Situation. Nun sollte massiv investiert werden, um einen zufriedenstellenden Zustand zu erreichen – auch ohne Pandemie.

Weitere Informationen: www.interreg-bayern-tirol.info

Mirjana Mihajlovic
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