Unabhängiges Georgien

„Ein täglicher Kampf für Frieden und Freiheit“

Ausland
27.05.2021 17:34

Die georgische Botschafterin Ketevan Tsikhelaschvili sprach anlässlich des georgischen Unabhängigkeitstags am 26. Mai mit „Krone“-Außenpolitik-Redakteur Clemens Zavarsky über Bertha von Suttner, die ständige Bedrohung durch Russland und Kindergarten-Kinder, die Stalin und Lenin huldigen.

„Krone“: Frau Botschafterin, wie haben Sie den georgischen Unabhängigkeitstag gefeiert?
Ketevan Tsikehlaschvili: Wir konnten weder hier noch in Georgien traditionell feiern, wegen der Corona-Pandemie. Das war sehr schade, immerhin haben wir ein Jubiläum: Georgien ist vor 30 Jahren - zum zweiten Mal insgesamt - unabhängig und somit ein demokratischer Staat geworden. Beide Male von Russland. Ich hoffe, dass ich nächstes Jahr eine angemessene Feier in der Botschaft ausrichten kann.

Aber gefeiert wird der Jahrestag der ersten Unabhängigkeit, im Jahr 1918?
Ja, das ist richtig. Das wissen nicht viele, wir waren von 1918 bis 1921 schon einmal für drei Jahre unabhängig. Auch unsere Verfassung ist aus dem Jahr 1919, die wir natürlich nach unserer zweiten Unabhängigkeit zeitgemäß adaptiert haben. Georgien war auch eines der ersten Länder, das eine sozialdemokratische Staatsspitze gehabt hat. 

Und wurde auch von den europäischen Sozialdemokraten bald besucht. Österreich war auch dabei.
Ja, das stimmt. Österreich hat auch nicht nur die Unabhängigkeit Georgiens anerkannt, sondern gleich zwei Konsulate eröffnet. In Batumi und in Tiflis. Die Verfassung war sehr fortschrittlich. Sie schützte das Privateigentum, die Arbeitnehmerrechte und die politische Partizipation von Frauen. 17 Frauen stellten sich damals zur Wahl, fünf schafften es ins Parlament, darunter auch die erste Muslimin weltweit, die demokratisch gewählt wurde. Und apropos Österreich: Nicht viele wissen, dass Bertha von Suttner - die erst Friedensnobelpreisträgerin - und ihr Mann Arthur fast zehn Jahre in Georgien gelebt haben (1876 bis 1885, Anm).

Sie waren gut befreundet mit der Fürstin Ekaterina Dadiani und schrieb dort einige Bücher. Diese Zeit war sehr einflussreich auf ihr späteres Werk „Die Waffen nieder!“ Das passt in das Georgien der heutigen Zeit. Wir wollen, dass die Waffen, die auf uns gerichtet sind, niedergelegt werden. Deswegen hat die georgische Post anlässlich der 30-jährigen Unabhängigkeit auch eine Ehrenbriefmarke von Bertha von Suttner aufgelegt.

Wenn es um Krieg und Frieden geht, kommt man in Georgien unweigerlich auf das Thema Russland zu sprechen. Wie würden Sie das Verhältnis zu Russland beschreiben?
Es fühlt sich an, als wäre unser Kampf für die Unabhängigkeit und Freiheit noch nicht zu Ende. Ganz Georgien war von der Sowjetunion besetzt, 20 Prozent sind noch immer von Russland besetzt, das sich noch immer als legitimer Nachfolger der Sowjetunion sieht. Es ist ein täglicher Kampf für den Frieden, es ist eine permanente Bedrohung.

Sie meinen die Gebiete Abchasien und Südossetien, die nach dem Krieg 2008 von Russland besetzt worden sind?
Ja. Wir sind täglichen Provokationen ausgesetzt. Das russische Militär hat einfach einen Stacheldraht durch Häuser, Ländereien, Farmland gezogen. Das ist wie ein Eiserner Vorhang, der durch Georgien geht. Südossetien sieht aus wie Militär-Ghetto. Russlands Armee steht dort mit zehntausend Mann, bei einer Bevölkerungsanzahl von 20.000 in Südossetien. Ein Großteil der Bevölkerung wurde vertrieben, jeden zweiten oder dritten Tag führt das Militär Schießübungen durch. Wir sind in permanenter Alarmbereitschaft. Das zerrt an den Nerven. Aber wir wollen keinen Krieg mit unseren Nachbarn. Das wäre Selbstmord. Wir wollen Frieden.

Wie kann dieser Frieden aussehen?
Die Basis für eine gute Beziehung wäre einmal der Respekt Russlands vor georgischem Territorium. Solange Georgien durch Stacheldraht getrennt ist, können wir keine normalen diplomatischen Beziehungen aufnehmen. Wir versuchen es mithilfe der internationalen Gemeinschaft weiter. Dass wir unser Territorium zurückbekommen, dass wir die Binnenflüchtlinge, es handelt sich um fast 300.000, wieder zurück in ihre Heimat schicken können. Aber es ist nicht nur eine Bedrohung durch Panzer, sondern auch durch Fake News. Russlands Propaganda fährt eine Desinformation-Kampagne in der Region, das gefährdet die fundamentalen Werte und Stützen, auf denen unsere Demokratie aufgebaut ist. Sie erinnern sich an die Vorwürfe, Russland greife in die US-Wahlen ein. Nun, in Georgien passiert das seit den 1990er-Jahren. Ja, wir haben ein regionales Problem, aber diese Bedrohung ist viel größer und betrifft auch die Sicherheit der EU und Europa als Ganzes. 

Sie haben in einem Interview einmal gesagt, sie fürchten eine „Re-Sowjetisierung“ von Südossetien. Was meinen Sie damit?
Schauen Sie sich aktuelle Bilder von dort an. Wir haben Bilder von Kindergartenkindern, die Fahnen mit Sowjetsymbolen schwingen, Jubellieder auf Stalin und Lenin singen. Im Kindergarten! Kinder marschieren mit Waffenattrappen und malen Bilder von Panzern. Sie spielen Kriegsspiele und als Gegner ist immer Georgien und muss getötet werden. Georgischen Kindern im Gebiet ist es verboten, georgisch zu sprechen. Das ist bizarr. 

Sie haben auch einmal gefordert, EU und USA sollen eine Vermittlerrolle einnehmen. Man hat nicht den Eindruck, dass das auf großes Interesse gestoßen ist. Fürchten Sie, dass erst - wie in der Ukraine 2014 - Russland einmarschieren muss, bis die internationale Gemeinschaft reagiert?
Sind sie ja schon, 2008. Das war der erste Versuch seit dem Ende des Kalten Kriegs, die Grenzen Russlands wieder gewaltsam zu verschieben. Es gibt Gespräche im Rahmen der OSZE, es gibt die sogenannten Genfer Gespräche zwischen Russland und Georgien. Aber Russland verschleppt die Diskussion, ähnlich wie bei den Minsker Gesprächen zur Ukraine. Sie haben ein Papier unterzeichnet, dass sie die Truppen abziehen. Das haben sie nicht gemacht. Ganz im Gegenteil, sie haben noch mehr hingeschickt. Wir hatten geschätzt über 50 Gesprächsrunden in Genf, und es ist immer besser zu reden als nicht zu reden. Aber wir wollten drei Grundpfeiler gewährleistete: ein Ende der Gewalt. Russland hat sich nicht daran gehalten. Zweitens: internationale Schutztruppen am Boden. Russland hat das nicht gestattet. Und drittens die Heimkehr der Binnen-Vertriebenen. Ebenfalls nicht passiert.

Hat eigentlich neben Russland jemand die „Unabhängigkeit“ von Südossetien und Abchasien akzeptiert?
Ich glaube, Venezuela, Nicaragua, Syrien, Tuvalu und Nauru. Aber Tuvalu hat wieder zurückgezogen. Also eigentlich ein totales Fiasko für Russland. Die Regionen sind nicht unabhängig, sondern voll abhängig von Russland. Das ganze Gebiet wird vom Inlandsgeheimdienst FSB kontrolliert. 

Für russische Dichter wie Puschkin oder Jewtuschenko, Georgien ist der Paradiesgarten, wo die Seelen der Russen, sofern sie es sich verdient haben, hinziehen. Zudem ist euer Wein sehr berühmt. Das wird aber nicht der Grund sein, warum Ihrer Meinung nach Russland sich Georgien wieder einverleiben will?
Schwierig zu sagen. Russland hat imperialistische Bestrebungen und will das Sowjetreich wieder aufbauen. Russlands Präsident Wladimir Putin sagte im Jahr 2000: „Die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts war der Zusammenbruch der Sowjetunion.“ Im selben Jahr installierte er die Sowjet-Hymne wieder als Nationalhymne, allerdings mit anderem Text. Sie kommen von diesem Frankenstein-Gebilde namens Sowjetunion irgendwie nicht los. Für den Westen mag der Kalte Krieg vorbei sein. Für Moskau ist er es nicht. Deswegen rüsten sie auf, gehen in den Konfrontationsmodus. Sogar wirtschaftlich. Siehe Ukraine. Öl und Gas als außenpolitisches Druckmittel. 

Auch in Belarus sieht man das. Russland ist der größte Abnehmer an belarussischen Milchprodukten. Wie sieht die Abhängigkeit Georgiens aus?
Nicht mehr so stark wie früher. Sie haben sogar einige Male ein Embargo über uns verhängt, etwa auf den Wein. Aber wirtschaftlich haben wir eine Unabhängigkeit von Russland geschafft.

Georgien hat ein Assoziierungabskommen mit der EU unterzeichnet, 2024 will man dem Beitritt zur Union noch einen Schritt näher kommen und den berühmten „Brief nach Brüssel“ schicken. Wie schätzen Sie ihre Chance auf eine positive Antwort ein?
Wir sind nicht naiv. Und suhlen uns auch nicht in romantischen Vorstellungen. Wir kennen die Herausforderungen. Die Euro-Atlantische Integration steht seit letztem Jahr in unserer Verfassung. Wir versuchen den Geist unserer ersten Republik wiederzubeleben, wo Georgien sehr progressive Politik gemacht hat, etwa die Gleichstellung der Frau. Georgien ist ein Teil von Europa.

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