Unabsehbare Folgen

Gibraltar und spanisches Umland zittern vor Brexit

Ausland
30.01.2020 11:04

Am Freitag um Mitternacht ist es so weit: Großbritannien tritt aus der Europäischen Union aus. Und an kaum einem Ort haben die Bewohner und Unternehmen mehr Angst vor den Folgen des Brexit als in der britischen „Kolonie“ Gibraltar. Die rund 34.000 Einwohner auf der gerade einmal 6,4 Quadratkilometer großen Halbinsel an der Südspitze Spaniens sind extrem vom spanischen Umland abhängig. Doch auch dieses zittert angesichts des britischen EU-Abschieds.

Der Brexit-Vertrag wurde am Mittwoch vom EU-Parlament gebilligt. Nun hat die britische Regierung in der Übergangsphase bis zum 31. Dezember 2020 Zeit, die künftigen Konditionen mit der EU zu verhandeln - einen Vertrag, der unter anderem die Rahmenbedingungen für den Güter- und Dienstleistungsverkehr sowie Visa-Regularien bestimmt. Sollte es zu einem harten Brexit, der nach wie vor nicht abgewendet ist, kommen, wäre das gravierend für das Leben und die Geschäfte in Gibraltar.

Fast alles muss aus Spanien importiert werden
Supermärkte, Restaurants und Hotels müssen so gut wie alles aus Spanien importieren. Öl und Baumaterial müssen in Spanien gekauft und der Müll dort gelagert werden. Ohne die 11000 spanischen Arbeitspendler, die täglich die Grenze kreuzen, würde in Gibraltar nichts mehr laufen. Selbst das Krankenhaus müsste dichtmachen, da spanische Ärzte und Krankenschwestern einen Großteil der Belegschaft bilden.

Große Verunsicherung bei den Unternehmern
Am 26. Februar beginnen die bilateralen und mit der EU vereinbarten Gibraltar-Verhandlungen zwischen London und Madrid. Es wird vor allem um die Grenzkontrollen und Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen gehen. „Viele Unternehmen bereiten sich auf zwei bis drei Szenarien und natürlich auch auf den schlimmsten Fall, einen harten Brexit, vor. Doch es ist schwierig, sich auf etwas vorzubereiten, von dem man nicht weiß, wie genau es aussehen wird“, erklärte Stuart Byrne von Gibraltars Kleinunternehmer-Verband im APA-Gespräch. Die Verunsicherung der Unternehmer sei groß.

Fakt ist: Ab Samstag wird es sich beim Übergang von der südspanischen Kleinstadt La Linea de la Concepcion nach Gibraltar um eine EU-Außengrenze handeln. Zunächst wird sich wenig verändern. Aber nach dem 31. Dezember hängt das Glück der Region von der Art der Grenzkontrollen ab. Stundenlange Wartezeiten könnten zum Einbrechen der Touristenzahlen führen, einem der wichtigsten Wirtschaftsstandbeine der britischen „Kolonie“.

Die Überlegungen von Gibraltars Regierungschef Fabian Picardo, mit Gibraltar dem Schengen-Raum beizutreten, um den Personen- und Warenverkehr zu erleichtern, überzeugt aber auch nicht alle Unternehmen. Dadurch müssten in dem britischen Steuerparadies eine Mehrwertsteuer sowie eine wesentliche höhere Unternehmenssteuer eingeführt werden, was sämtliche Standort- und Marktvorteile beseitigen würde.

Unsichere Zukunft für spanische Arbeiter in Gibraltar
„Für mich ist allerdings klar, dass wir spanischen Arbeiter die Folgen eines harten Brexit noch stärker spüren würden als die Gibraltarer“, so Salvador Molina, Vorsitzender des Verbands spanischer Arbeiter in Gibraltar. Eigentlich gehörten die spanischen Arbeiter, die in Gibraltar wöchentlich in Pfund ausgezahlt werden, schon jetzt zu den großen Brexit-Verlierern, da ihre Kaufkraft durch den Verfall der britischen Devisen deutlich abgenommen habe, so Molina.

Auch südspanisches Umland fürchtet harten Brexit
Auch spanische Unternehmen, vor allem in der Grenzstadt La Linea, würden hart von strikteren Kontrollen beim Personen- und Warenverkehr getroffen werden. Fast 40 Prozent aller Umsätze seien auf Kunden aus Gibraltar zurückzuführen. So auch bei Maria Sol Vazquez. Die 50-jährige Spanierin unterhält in La Linea und in Gibraltar Geschäfte für Hörgeräte. „Ich muss die Grenze täglich drei bis vier Mal überqueren. Zudem geht mein Sohn in Gibraltar zur Schule. Ich habe dort viele Freunde und sogar Verwandte. Wie soll das gehen, wenn ich mich bei jedem Mal stundenlang anstellen muss?“, fragt sie sich.

Zudem rechnet sie damit, Lieferschwierigkeiten zu bekommen, wenn ihr aus Spanien importiertes Material zu lange an der Grenze liegt. Auch weiß sie nicht, ob sie als EU-Bürgerin einfach so weiter eine Firma in einem nicht mehr zur EU gehörenden Land führen kann. „Ich bin nervös und unsicher, wie es weitergehen wird. Das Geschäft in Gibraltar macht rund 30 Prozent meines Umsatzes aus“, so Vazquez.

Ihr Fall zeigt, wie verflochten die wirtschaftlichen, aber auch kulturellen und familiären Beziehungen zwischen Gibraltar und dem spanischen Umland sind. Das Schlimmste jedoch: „Sollte es Probleme oder keine Einigung bei Arbeitserlaubnissen und Grenzkontrollen geben, haben wir hier kaum Alternativen“, erklärt Juan Lozano, Vorsitzender der spanischen Region Campo de Gibraltar. Die Jobperspektiven seien alles andere als rosig. Die Arbeitslosenquote in der strukturschwachen Region liege mit 35 Prozent so hoch wie in kaum einer anderen Gegend Spaniens.

Immer wieder diplomatische Verstimmungen mit Folgen
Wie viele Menschen auf beiden Seiten der Grenze befürchtet Lozano, dass die Gibraltar-Verhandlungen nach hinten losgehen könnten. Immer wieder führten in der Vergangenheit britische Atom-U-Boote oder andere diplomatische Verstimmungen wegen Gibraltar, das seit 1713 zu Großbritannien gehört und seither regelmäßig von Spanien zurückgefordert wird, sporadisch zu strikteren Grenzkontrollen seitens der Spanier. Und in diesen Zeiten ging der Umsatz in Gibraltars Geschäften stets prompt um rund 50 Prozent zurück …

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