Sparkurs-Opfer

Griechen verdienen nicht einmal mehr den Mindestlohn

Ausland
15.11.2011 12:12
Großzügige Mindestlöhne, kurze Arbeitszeiten, schöne Pensionen: Überall machen Geschichten aus dem vermeintlichen griechischen Arbeiter-Wunderland die Runde. Eineinhalb Jahre nach Beginn des rigiden Sparkurses sieht die Realität am Mittelmeer allerdings längst anders aus. Die meisten Arbeitnehmer wissen nicht mehr, wie sie von dem radikal zusammengestutzten Gehalt ihre Rechnungen bezahlen oder die Monatsmiete finanzieren sollen.

Der Arbeitgeber von Giorgos Theonas etwa hat den bisher festen Vertrag in ein befristetes Verhältnis umgeändert, dabei die Arbeitszeit von vier auf sieben Tage die Woche verlängert und den Lohn so weit gekürzt, dass der 33-Jährige pro Monat noch 700 Euro netto in der Hand hält. "Ich kann nicht mehr ohne die Unterstützung meiner Eltern leben", sagt Theonas, Redakteur bei einer Zeitschrift. "Und ich schaue mich nicht nach einer anderen Arbeit um. Es gibt keine. So ist Griechenland."

Dabei gehört Theonas sogar noch zu den Glücklicheren: Er hat Kollegen, die im Monat gerade einmal 300 Euro verdienen und auf Ausbildungsverträgen sitzen, die auf Jahre hinaus verlängert wurden - auch wenn sie die Aufgaben früherer Vollzeitkräfte erledigen. "Die meisten meiner Freunde sind arbeitslos", sagt Theonas. "Überall höre ich, dass Leute ihre Stelle verlieren. Was habe ich also für eine Wahl?"

Jeder Fünfte ohne Job
So gut wie jeder fünfte der rund vier Millionen Griechen im arbeitsfähigen Alter ist ohne Job. Die Arbeitslosenrate liegt inzwischen auf rekordhohen 18,4 Prozent. Besonders hart betroffen sind junge Menschen: Bei den 15- bis 24-Jährigen sind knapp über 40 Prozent ohne Arbeit.

Mit den jüngsten Reformen hat das Parlament noch vor dem Regierungswechsel weitere Einschnitte bei den Pensionen und auf dem Arbeitsmarkt verabschiedet: Die Unternehmen dürfen nun Branchenvereinbarungen über Mindestlöhne ignorieren. Griechenland erfüllt damit die Forderungen seiner Geldgeber. EU, EZB und IWF verlangen im Gegenzug für ihre Darlehen, den Mindestlohn von 750 Euro im Monat auch grundsätzlich zu senken. Viele Slowaken können von einer solchen Summe beispielsweise nur träumen: Das Durchschnittseinkommen in dem Euro-Land liegt lediglich geringfügig über dem griechischen Mindestbetrag.

Drastische Einschnitte
Die wirtschaftlichen Fakten sind allerdings diese: Fast jeder vierte Grieche verdient sein Geld inzwischen in illegalen Arbeitsverhältnissen, also ohne jede Sozialleistung. Nahezu zehn Prozent der Angestellten in der Privatwirtschaft haben inzwischen Gehaltseinbußen akzeptiert. Nur noch die Hälfte der knapp 540.000 Arbeitsverträge, die zwischen Jänner und September abgeschlossen wurden, laufen über Vollzeit. Gleichzeitig wurden im selben Zeitraum mehr als 42.000 volle Verträge in Teilzeit umgewandelt.

Daten der europäischen Statistikbehörde zufolge kann sich ein Viertel der griechischen Familien inzwischen nicht mehr leisten, was für den großen Durchschnitt in Europa selbstverständlich ist. So schlecht steht es in keinem Land, das der Europäischen Union vor 2004 beigetreten ist.

Debatte um Mindestlohn
Viele Griechen halten die Debatte über eine Senkung des Mindestlohns nicht zuletzt deshalb für das falsche Gefecht, weil die Kräfte des Marktes die Löhne längst unter die staatliche Grenze gedrückt hätten. "Die Politiker streiten über etwas, das es gar nicht mehr gibt", meint etwa der 54-jährige Elektriker Apostolis Boltsis. Die Bürger haben Angst, dass bei einer offiziellen Senkung alle Dämme brechen - und der letzte Respekt verloren geht. "Damit lässt man das Raubtier vollends aus dem Käfig", sagt die 30-jährige Anzeigenkauffrau Afroditi Lemoni. "Wenn die nationale Vereinbarung auch noch auf dem Papier gestrichen wird, dann werden die Arbeitnehmer überhaupt nicht mehr respektiert."

Auch Fachleute geben zu bedenken, dass ein niedriger Mindestlohn in Griechenland womöglich weniger bringt als anderswo: Billige Arbeit macht Produkte vor allem im Ausland attraktiver. Das hat Lettland zum Beispiel aus seiner Krise geholfen. Exporte machen in dem südeuropäischen Schuldenstaat aber nur ein Fünftel der heimischen Wirtschaftsleistung aus. "Die griechische Wirtschaft ist sehr geschlossen", sagt Gilles Moec, Europa-Experte der Deutschen Bank. Das Land am Mittelmeer würde in ungleich höherem Maße profitieren, wenn die weit verbreitete Schattenwirtschaft ins Tageslicht gehoben würde und Steuern sowie Sozialabgaben einbrächte. "Eine allgemeine Senkung der Gehaltskosten reicht nicht aus, um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern", sagt Nikos Magginas von der Nationalen Bank in Athen. "Von entscheidender Bedeutung ist es, die Schwarzarbeit zu verkleinern."

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