Offener Brief:

Nikolaus Harnoncourt zieht sich zurück

Steiermark
06.12.2015 17:35
Musik hält jung, wenn auch nicht ewig. Mit einem offenen Brief zog sich der große Dirigent Nikolaus Harnoncourt am Freitag vom Konzertleben zurück.

Man möchte es kaum wahrhaben. Und doch war es abzusehen. Schon Beethovens "Missa Solemnis", in seiner unerhört aufwühlenden Lesart vom Juni 2015, war eine Art Abschiedsgeschenk an das steirische Publikum. Inklusive Klangwolke im Rundfunk, für uns alle, das ganze Land.

Radikaler Werk-Entstauber
Der Nachfahre Erzherzog Johanns dachte bis zuletzt nicht an Ruhestand. Man bekam manchmal Angst um ihn, wenn er immer langsamer das Pult erklomm. Aber nach den ersten Takten, die bei ihm meist Vorboten radikaler Werk-Entstaubungen waren, schien das Alter vergessen. Die Musik hält eben jung, und der 86-jährige Superstar der Klassik, dieser Revolutionär des Orchesterklanges, dessen Bedeutung für die Interpretationsgeschichte kaum zu überschätzen ist, würde wohl noch einmal 20 Jahre weitermachen, wenn er könnte.

Anfänge bei Karajan
Harnoncourt, der als Cellist bei Karajan in Wien begann, der in den Sechzigern mit seinem Concentus Musicus die Brandenburgischen Konzerte von Johann Sebastian Bach radikal entschlackte und in den Siebzigern mit einem legendären Opernzyklus nach Claudio Monteverdi auch als Dirigent zu Weltruhm aufstieg, Harnoncourt, der sein Repertoire nach und nach über die Klassik und Romantik bis zu einer wundervollen Produktion von George Gershwins "Porgy and Bess" 2009 in Graz erweiterte, wiederholte sich eigentlich nicht. Dazu ist er viel zu neugierig. Selbst sein Beethoven, mit dem er vor 25 Jahren bei der "styriarte" eine echte Referenz der so genannten historisch informierten Aufführungspraxis schuf, hat sich seither noch stark gewandelt, ist immer ruppiger, impulsiver, wenn man so will "rhetorischer" geworden.

Neue Entdeckungen
Immer wieder macht Harnoncourt bei seinen akribischen Recherchen neue Entdeckungen. Zuletzt etwa gelangte er zu der Überzeugung, dass Mozart seine drei letzten Symphonien als "instrumentales Oratorium" konzipiert hat. Immer unterlegt Harnoncourt seine Werkdeutungen mit starken, menschlichen Bildern, mit leuchtenden Assoziationen - und nicht selten mit plakativen Zuspitzungen, die auch in Fachkreisen durchaus kontrovers aufgenommen werden.

Begeisternder Musikvermittler
Doch wie auch immer man im Einzelnen zu seinen musikhistorischen Ansichten und Deutungen stehen mag: Als begeisternder Musikvermittler erreicht Harnoncourt nicht nur sein Publikum, sondern holt stets auch das Besondere aus seinen Musikern heraus. Klangrede, Musik als Erzählerin für Außermusikalisches, das ist seine Fabelwelt. Klang als bloßer, abstrakter Selbstzweck interessiert ihn nicht. Wer weiß, welche Überraschungen, welche Offenbarungen er uns nächstes Jahr mit seinem neuerlich geplanten Zyklus aller Beethoven-Symphonien vorgesetzt hätte!

Vieles in Schwebe
Nun, nach seinem definitiven Bühnenrücktritt, ist vieles in Schwebe, und neben vielen anderen betroffenen Konzertveranstaltern wird auch die "styriarte", die ihrem Selbstverständnis nach ein rund um Harnoncourt gruppiertes Festival ist, über ihre Zukunft nachdenken. Der Beethoven-Zyklus im Sommer 2016 mit dem Concentus musicus dürfte aber, einer ersten Presseaussendung des Festivals zufolge, unter anderer Leitung stattfinden. Vermutlich wäre es dem Dirigenten kaum recht, wenn nun die halbe Musikwelt seinetwegen still steht.

Fesselnder Klangredner
Das Schöne daran: Dies ist kein Nachruf! Nikolaus Harnoncourt, der just einen Tag vor seinem Namenstag und 86. Geburtstag seinen Bühnenabschied bekannt gab, weilt ja nach wie vor unter uns. Möge er uns als Zeitgenosse von außergewöhnlichem Format, aber auch als mahnende Stimme der Vernunft in einer immer unübersichtlicheren Welt noch lange erhalten bleiben. Als radikaler Erneuerer der Interpretationsgeschichte, als fesselnder Klangredner und begeisternder Musikvermittler ist er längst unsterblich.

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