Vor zwei Jahren stand Florence Welch am Scheideweg zwischen Leben und Tod – zum Glück ging die Geschichte gut aus. Auf ihrem neuen Album „Everybody Scream“ vermischt sie intensive persönliche Erlebnisse und Gedanken mit opulenten Mittelalter-Sounds und einem düster-okkulten Zugang. Das perfekte Halloween-Album, das Mystizismus und Melancholie großschreibt.
Stets die Etikette bewahren, sich niveauvoll und ruhig präsentieren, alles bedächtig hinterfragen und nicht auffallen – Verhaltensmuster, die wir von klein auf anerzogen bekommen und mit denen wir möglichst unauffällig durch ein systematisiertes Leben gehen sollen. Für Florence Welch ist der Benehmens-Knigge noch nicht einmal eine Empfehlung. Sie propagiert Emotionen, Ekstase und erlebte Eruptionen. Es geht um die bewusste Exaltiertheit, die sich darin entlädt, dass man alles, was einen bewegt, stört, erfreut oder erschreckt in erster Linie rausschreit. „Everybody Scream“ ist der in Ton gegossene Ratgeber dafür, sich nicht in vornehmer Zurückhaltung zu üben, sondern das Leben so zu leben und zu erleben, wie man es sollte: instinktiv, ehrlich und im Moment. Die gleichnamige Single schlug Ende des Sommers wie eine Bombe in die Indie-Welt ein und ließ früh auf ein neues Meisterwerk hoffen. Die Britin ist keine Königin des Understatements. Sie versteht Musik als ultimatives Hineinlegen und Geben – und dementsprechend gibt sie zumeist mehr als sie nehmen würde.
Verarbeitung des persönlichen Horrors
Ihr sechstes Studioalbum in 16 Jahren ist ein grundehrlicher, tief unter die Haut gehender Seelenstriptease, der sehr persönliche Themen mit Mystizismus und Hexenkunde vermischt und musikalisch nicht vor orchestralen Passagen und kompositorisch breiten Grätschen zurückschreckt. Wo der Titeltrack noch darauf anspielt, dass Florence auf der Bühne gerne alles gibt und herausschreit und dies auch ihren Fans und Hörern rät, geht das Album in seiner gesamten Konzeption deutlich stärker in die Tiefe. „Es gab sehr viele verschiedene Einflüsse und Elemente, die dieses Album geformt haben“, gab sie in einem Interview vorab dazu bekannt, „natürlich geht es in erster Linie um den Horror, der mir zugestoßen ist, aber noch mehr darum, wohin mich diese Erlebnisse geführt haben. In vielfacher Hinsicht hat mich das Album wieder zusammengebaut.“
Wir drehen das Rad der Zeit zurück. Noch im Juni 2023 spielen Florence + The Machine eine mitreißende, geradezu magische Open-Air-Show beim damals noch frisch existierenden Lido Sounds Festival in Linz. Ende August muss die Band zwei geplante Shows in Zürich und Paris absagen, den genauen Grund dafür erfährt man erst im Laufe des Jahres 2025. Im Zuge einer Fehlgeburt rissen Welchs Eileiter, was zu inneren Blutungen führte, die fast zum Tod führten, der nur durch eine spontane Not-Operation verhindert werden konnte. „Als ich knapp davor war, neues Leben in die Welt zu setzen, wäre ich fast von dieser Welt gegangen“, resümiert sie in der Rückschau auf diesen tragischen Fall, der Welchs Leben von einem Tag auf den anderen auf den Kopf stellte. Ein Grund, warum „Everybody Scream“ nicht nur ihr persönlichstes, sondern vielleicht auch dunkelstes Album geworden ist. Gerade im Direktvergleich mit dem fast schon überschwänglich wirkenden Vorgänger „Dance Fever“ aus dem Jahr 2022.
Unverfälschte Ehrlichkeit
„Als ich am Album arbeitete, habe ich oft an Mary Shelley’s Frankenstein oder die Brontë-Schwestern gedacht.“ Dunkle Momente, die zu dunklen Texten und dunklen Zugängen führten. Insofern ist „Everybody Scream“ eine spezielle Mischung aus Hexenkult und persönlicher Lebensbilanzierung, die sich in Songs wie „One Of The Greats“ oder „Kraken“ besonders ausufernd durch die Gehörgänge wühlen. „Die Hörer und ich können mit dem Album ein traumatisches Erlebnis spüren, ohne es erleben zu müssen. Die Verbildlichung dessen ist eine Form der Fluch von dem, was mir widerfahren ist.“ Das erwähnte „One Of The Greats“ hat sie mit Idles-Gitarrist Mark Bowen geschrieben, während sie mit dem Album „Dance Fever“ auf Tour war. Der Song wurde im Studio live eingespielt und symptomatisch für die Unmittelbarkeit und Spontanität, die sich quer durch das ganze Album zieht. „Everybody Scream“ ist nicht zuletzt ein Album, das von seiner unverfälschten Ehrlichkeit lebt, die sich zuweilen in schmerzhaften Songkapiteln entfaltet.
Mehr denn je setzt Florence ihren enormen Stimmumfang als eigenes Instrument und Emotionsverstärker ein. „Es war ein bewusstes Vorgehen, dass das Album nicht nur aus wunderschönen Klängen besteht, sondern manchmal total primitiv und ursprünglich klingt. Ich habe beim Songwritingprozess eine animalische Ader in mir entdeckt, die dafür sorgte, dass ich meine Stimme und meinen Körper anders einsetze. Ich habe mich dann tief in die Kunst des Mittelalter-Gesangs eingelesen und meine Stimme an diese Ausrichtung angepasst“, was man Songs wie „Drink Deep“ mehr als deutlich anhört. „Auch ,Sympathic Magic‘ war wirklich hart zu singen. Diese beiden Nummern kommen aus einem wilden, ungezähmten Bereich, wo es mir um das pure Wollen ging.“ Bei Songs wie dem „Witch Dance“ oder „Sympathic Magic“ geht es rätselhaft und okkult zu, während „Music By Men“ eine persönliche Abrechnung über das Verliebtsein ist, in dem gar die Pop-Kollegen von The 1975 zitiert werden.
Perfektes Halloween-Album
Die Einflüsse für diese intensive und zutiefst opulente Reise waren für Welch mannigfaltig. „Ich habe Hyper Pop, Hardcore, Doom-Folk, 70er-Jahre-Mittelaltermusik und Orgel-Musik gehört. Einmal ließ ich Lingua Ignota laufen, dann wieder Judee Sil. Völlig egal welches Genre ich dabei gestreift habe, man kann überall Begriffe wie Grauen, Störung oder Atmosphäre dafür heranziehen. Ich habe nach Musik gesucht, die mich innerlich tief berührt und bewegt.“ „Everybody Scream“ ist zumeist in Moll-Tönen gehalten und fürchtet sich nicht vor der großen Geste. Einen besseren Veröffentlichungszeitpunkt wie den Halloween-Freitag hätte man für dieses Werk nicht finden können. „Es ist ein absolutes Herbstalbum und Halloween eigentlich die einzige Möglichkeit, zu der man es veröffentlichen kann“, ergänzt Welch, „ich bin sehr stolz auf die vielen Strukturen, die das Album aufweist und die Welt, die ich dafür gebaut habe. Mit jedem Album lerne ich mehr über mich selbst und die Welt dazu und dafür bin ich dankbar.“
Live in Wien
Am 2. März präsentieren Florence + The Machine das Album „Everybody Scream“ und die Hits der älteren Alben live in der Wiener Stadthalle – leider ist das Konzert bereits restlos ausverkauft.
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