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Blinde Autofahrer üben am Brandenburger Tor

Nachrichten
12.06.2005 15:33
Wenn blinde Menschen im Herzen Berlins Fahrstunden nehmen, brauchen auch die Zuschauer starke Nerven. Da steuern Autos haargenau auf einen Poller am Brandenburger Tor zu, andere schaffen die Kurve vor der Siegessäule nur knapp. Doch den Fahrlehrern, die dieses ungewöhnliche Abenteuer am Sonntag in Berlin möglich machen, reichen glückliche Gesichter und ein neuer Rekord als Entschädigung für so manche Schweißperle auf der Stirn: Noch nie sind so viele Blinde mitten in einer Großstadt Auto gefahren.

Auf der Straße des 17. Juni, die für den Stadtverkehr gesperrt ist, ging es zu wie beim Autokorso. Mehr als 40 Fahrschulwagen kreiseln auf einem Kilometer Länge hin und her. Am Steuer sitzen Männer und Frauen mit dunklen Brillen oder einer gelben Blindenbinde am Oberarm. Eine Türkin mit Kopftuch ist dabei, ein erblindeter Senior präsentiert stolz seinen Führerschein aus dem Jahr 1952. "Endlich mal wieder benutzt", scherzt er. Sie alle erfüllen sich einen Traum: einmal richtig Gas geben.

280 Blinde und stark sehbehinderte Menschen hat das Autofahren nach Berlin gelockt, 18 Jahre alt ist der jüngste, 83 der älteste Teilnehmer. Für den Berliner Blindenverband ist diese Zahl ein neuer Rekord - und für so manchen der 80 Fahrlehrer, die hier die Übersicht behalten, eine ganz neue Herausforderung.

Reiner Delgado fährt mit 50 Kilometern in der Stunde seelenruhig auf eine Reihe parkender Autos zu. "Jetzt stark bremsen", sagt sein Fahrlehrer Rainer Sperling. Dass danach nur noch 20 Zentimeter zum Vordermann geblieben sind, kann der Fahrschüler weder sehen noch ahnen. Er sucht vergnügt den Schleifpunkt, es soll ja weitergehen.

Delgado hat eine Augenkrankheit von Kindheit an langsam erblinden lassen. Er hat seine Behinderung akzeptiert - "da war ich 20", sagt er. Heute reist er mit seiner peruanischen Frau gern nach Lima. Im Berliner Alltag kauft er im Supermarkt ein oder geht mit seinen beiden Kindern, 4 und 7 Jahre alt, auf den Spielplatz. Als sie noch zu klein waren, um zu begreifen, was "blind" bedeutet, half ihm ein Glöckchen an den Kinderbeinen. Reiner Delgado ist Sozialreferent von Beruf, er benutzt im Büro einen Computer mit Sprachprogramm, er geht auch gern ins Kino. Nur Auto gefahren ist der 35-Jährige noch nie.

Sein Fahrlehrer Rainer Sperling weiß, was er einem blinden Fahrschüler zusätzlich erläutern muss. Er hat probehalber selbst eine Augenbinde getragen und sich von einem Kollegen lotsen lassen. Seit Jahren organisiert Sperling diese ungewöhnliche Aktion des Berliner Fahrlehrerverbandes. Doch der Korso am Brandenburger Tor ist auch für ihn eine Premiere. Früher übten die Blinden auf stillgelegten Flugplätzen.

Der Spaßfaktor zählt bei dem ungewöhnlichen Parcours nicht allein. Es geht auch um die Probleme Blinder im Straßenverkehr. Davon kann Detlef Friedebold vom Berliner Blindenverein viel berichten: Von Ampeln ohne tackernde Signale zum Beispiel, von Zebrastreifen oder vom Kreisverkehr. Sie machen den 145.000 Blinden und 500.000 Sehbehinderten in Deutschland das Leben schwer. Auch, weil die Autos immer leiser werden. Das Wissen der Autofahrer um die Probleme Blinder kann schon sehr viel helfen.

Die 80 Berliner Fahrlehrer, die sich auf das Abenteuer mit blinden Fahrschülern eingelassen haben, geben ihr Wissen weiter. Reiner Delgado ist erst einmal nur glücklich über seine Fahrstunde. "Dass Blinde in Berlin Auto fahren, hat sogar in Peru in der Zeitung gestanden", betont seine Frau.

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