Forscher rätseln
Aggressive Orcas versetzen Segler in Angst
Seit dem Frühjahr 2020 häufen sich die Berichte über Attacken von Orcas, auch Schwert- oder Killerwale genannt, auf Segelboote im Atlantik. Besatzungen fürchten die bis zu acht Meter langen Tiere, Boote werden zum Teil erheblich beschädigt. Meeresbiologen und andere Forscher stehen vor einem Rätsel. Warum agieren Orcas plötzlich so?
Die Angst ist in der Stimme und den Augen von Opfern noch Monate zu erkennen. „Es hat sehr lange gedauert. Vielleicht eine halbe Stunde. Uns kam es aber wie eine Ewigkeit vor“, erzählte Andrea Fantini jüngst im spanischen Fernsehsender RTVE. Sechs oder sieben Orcas hätten in der Straße von Gibraltar seine Rennjacht attackiert und dabei unter anderem das Ruderblatt „aufgefressen“, berichtete der Bootskapitän. Fantini sah ein „sehr aggressives Verhalten“ der Tiere.
Zwar greifen Orcas auch andere Meeresgiganten wie Haie und andere Wale an. Auf Boote hatten sie es aber früher nicht abgesehen.
Erste Zwischenfälle meldeten Schiffsbesatzungen im Frühjahr 2020. Seitdem mussten viele Segler ähnliche Horrorszenen durchmachen. Dieses Jahr häufen sich Medienberichte über Orca-Attacken. Seit Jänner habe man mindestens 53 registriert, sagt der Biologe Alfredo López von der Organisation „GT Atlantic Orca“. Zwölf Boote seien so sehr beschädigt worden, dass sie abgeschleppt werden mussten.
Schweizer Boot von Orcas versenkt
Zwischenfälle gab es auch vor der Küste Portugals und weiter nördlich im Atlantik vor der spanischen Region Galicien. Anfang Mai ging vor Cádiz das Schweizer Boot Champagne nach einem Zwischenfall mit Orcas sogar unter. Es sei „nicht wirklich lustig“ gewesen, sagte Skipper Werner Schaufelberger (72) dem Portal „Blick“.
Man müsse schnell eine Lösung finden, fordert inzwischen Fantini. Sonst könnten kleinere Schiffe das Gebiet zwischen Mittelmeer und Atlantik, zwischen Europa und Afrika wohl nicht mehr befahren. Doch Forscher wissen nicht, warum Orcas nun ein solch aggressives Verhalten zeigen. López, ein weltweit angesehener Meeresbiologe, vertritt zwei Thesen.
Die erste: Die Schwertwale aus der Familie der Delfine könnten vielleicht einfach „etwas Neues“ erfunden haben. Sie seien hochintelligente, neugierige und sehr soziale Wesen, die von ihren Artgenossen lernten. Bereits früher habe man beobachtet, dass einzelne Orca-Gruppen eigenwillige Gewohnheiten entwickelt hätten.
Rache einer Orca-Mutter?
„Aber es könnte sich auch um eine Antwort auf ein negatives Erlebnis handeln“, meint López. „Das heißt, ein oder mehrere Tiere haben vielleicht eine schlechte Erfahrung gemacht und versuchen, die Boote zu stoppen, damit sich das nicht wiederholt.“ Der Experte hat eine Orca-Mama im Verdacht, die Attacken, die Biologen lieber „Interaktionen“ nennen, initiiert zu haben.
Die Wal-Dame hat auch einen Namen: Gladis Blanca, Weiße Gladis. Sie oder eines ihrer Jungen könnten sich etwa in einem Fischnetz verfangen haben oder von einem Boot angefahren worden sein. Für eine Reaktion auf eine negative Erfahrung spreche unter anderem, dass Gladis Blanca 2021 sogar mit ihrer neugeborenen Tochter Boote angefallen habe. „Die Motivation, die sie zur Interaktion antreibt, ist offenbar größer als der mütterliche Schutzinstinkt“, sagt López.
Im Gegensatz dazu glaubt Renaud de Stephanis, dass die Orcas eigentlich nur Spaß haben wollen. „Es ist klar, dass es sich um Spiele handelt“, sagte der Präsident der Umweltschutzorganisation Circe zu RTVE. Jüngere Tiere hätten mit diesem Verhalten begonnen, und nun seien auch zwei Mütter aktiv, versichert er. Es sei zu erwarten, dass die Zwischenfälle aufhörten, sobald die Orcas dieses Spiel satthätten.
Angriffe konzentrieren sich auf kleines Gebiet
Einige Meeresbiologen räumen unumwunden ein, man habe „keinen blassen Schimmer“. Auffällig ist: Während Orcas in Ozeanen weltweit leben, erfolgten die dokumentierten Angriffe in dem relativ kleinen Gebiet südlich und westlich der Iberischen Halbinsel. Beteiligt waren Schätzungen zufolge bisher insgesamt 35 bis maximal 60 Tiere.
Eine erste Sicherheitsmaßnahme, nämlich Fahrverbote für kleinere Boote zu verhängen, brachte keinen Erfolg. Nun begann die Regierung in Madrid damit, einzelne Orcas mit GPS-Trackern zu bestücken, um gegebenenfalls Kapitäne warnen zu können.
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