Neues Album „Spell 31“

Ibeyi: Philosophisch-aktivistisch gegen Rassismus

Musik
05.05.2022 06:00

Musikalisch als auch zwischenmenschlich haben die beiden Zwillingsschwestern Lisa-Kaindé und Naomi Diaz mit ihrem Projekt Ibeyi vor einigen Jahren eine ganz neue Farbe auf den Musikmarkt gebracht. Ihr lang ersehntes Drittwerk „Spell 31“ ist ein akustisches Mahnmal für die Liebe, Magie, Vorfahren, Familie und das naive Kindsein. Im Interview blickten wir mit den beiden hinter die Kulissen eines der spannendsten und auch aktivistischsten Alben des Jahre.

(Bild: kmm)

Dass eine Band wie Ibeyi über das geschmackssichere Indie-Label XL Recordings seit Jahren so viel Wind aufwirbeln kann, muss man als grundpositiv sehen. Die Band besteht aus den beiden französischen Zwillingsschwestern Lisa-Kaindé und Noami Diaz und formte sich schon im Teenageralter. Der 2006 viel zu früh verstorbene Vater war Perkussionist Miguel „Anga“ Diaz, bekannt vom Buena Vista Social Club. Mutter Maya Dagnino fungierte als Fotografin und Managerin und animierte Lisa-Kaindé schon in sehr jungen Jahren, an ihr Songwriting zu glauben. Schwesterherz Naomi beschloss nach Papas Tod, sein Leibinstrument Cajon zu erlernen und das ständige Pendeln zwischen Paris und Havanna schlägt sich nicht zuletzt in Yoruba nieder. Der nigerianischen Sprache, die über den Sklavenhandel im 18. Jahrhundert nach Kuba kam und nicht nur im Bandnamen (Ibeyi bedeutet schlicht: Zwillinge), sondern auch in so manchem Songtext Verwendung findet.

Den Zeitgeist erwischt
XL-Boss Richard Russell erkannte das Potenzial früh, nahm die beiden unter Vertrag und produzierte die zwei ersten Alben. „Ibeyi“ drehte sich um Verlust, den Tod und die Herkunft, der Nachfolger „Ash“ 2017 uferte inhaltlich mehr in Richtung Rassismus, Feminismus und Aktivismus aus. Dazwischen waren die beiden ein essenzieller Teil von Beyoncés Kurzfilm „Lemonade“ und wurden nicht nur musikalischen Goldschürfern, sondern erstmals auch einem breiteren Publikum bekannt. Ibeyi entwickelten sich mit ihrer originären Mischung aus Soul, Ethno-Folk, R&B, Downtempo, Elektronik und Hip-Hop zu einer der spannendsten Bands der Gegenwart und erwischten früh auch inhaltlich den Zeitgeist. Der Kampf für Gleichberechtigung und gegen Rassismus, für Menschlichkeit und gegen inhumane Mechanik paarte sich mit fordernden, aber nachvollziehbaren Songs und einer philosophischen Metaebene, die sich immer wieder gerne auf Spirituelles und ungreifbare Mächte beruft, ohne dabei zu stark in den Esoterik-Topf zu greifen.

Nach zwei Erfolgsalben und wohlverdienten Meriten war das Arbeiten am Drittwerk nicht mehr ganz so einfach und ungezwungen zu bewerkstelligen. „Wir haben schon eine musikalische Identität, aber sie entwickelt sich einfach immer weiter“, erklärt uns Lisa-Kaindé in der Zoom-Conference mit ihrer Schwester, „Ibeyi werden immer Ibeyi bleiben, aber wir wollen Millionen Wege finden, um uns auszudrücken und musikalisch zu entfalten.“ Naomi ergänzt: „Dass die Leute uns jetzt kennen, hat zwei Seiten. Es ist toll, dass sie uns mögen, aber damit einher geht auch eine gewisse Erwartungshaltung. Es ist natürlich mehr Druck da, dass man sich wiederholt, aber den größten Druck machen wir uns selbst. Wir wollen in erster Linie Musik erschaffen, die uns anspricht. Unsere eigenen Herzen erobert. Es ist eine nicht enden wollende, aber wundervolle Reise.“

Vom Diesseits ins Jenseits
Nun also Album Nummer drei. Der titelgebende „Spell 31“ ist ein Fluch aus dem „Egyptian Book Of The Dead“, das im Studio herumlag als die zwei Schwestern sich gerade an die Arbeit zum Album machten. Lose geht es im Kapitel darum, Verstorbene in die nächste Welt zu geleiten, den Übergang der Seele vom Diesseits ins Jenseits zu sichern. Im Song „Made Of Gold“ mit Gast Pa Salieu wird genauer darauf eingegangen. „Aufgrund von Sklaverei und religiösen Irrläufen wurden geniale Menschen früher gehängt oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt.“ So verbinden die beiden Schwestern auf unaufdringliche und kongeniale Weise rassistische Probleme aus der Vergangenheit mit den nicht enden wollenden Verwerfungen diesbezüglich in der Gegenwart. Der Schmerz der Ungerechtigkeit geht mit den kommenden Generationen nicht verloren, er wird nur anders kanalisiert.

Ein weiterer wichtiger Schlüsselmoment ist das Schlussstück „Los Muertos“, in dem per Sprechgesang Familienmitgliedern, Freunden oder Inspirationsquellen gehuldigt wird. Die Range reicht hierbei von Vater Anga bis hin zu Funk-Legende Prince. „Unser Vater hat die Musik immer als eine große Freude betrachtet und dieses Erbe von ihm wollen wir weiterziehen“, erklärt Naomi, die in den letzten Jahren nicht nur stimmlich stärker in den Vordergrund gerückt ist, sondern Russell dieses Mal auch aktiv bei der Produzententätigkeit half. Anstatt auf der ganzen Welt aufzunehmen, musste sich das Duo in der Pandemie zwischen London und Paris bewegen - und selbst das war nur mit strengen Quarantäne-Auflagen möglich. Umso erstaunlicher, dass es Ibeyi trotz der Beschränkungen scheinbar mühelos schaffen, Message und Musik derart lebendig und breitenwirksam mit der Öffentlichkeit zu teilen.

Verbindendes Element
Das neue Album sieht Lisa-Kaindé als „Mischung aus dem Feiern des Lebens, des sich gut Fühlens und der Magie des Heilens.“ Die „Black Lives Matter“-Mitbegründerin und Aktivistin Janaya Future Khan hat dem Werk sogar ein erklärendes Essay beigesteuert. Ein weiteres Zeichen dafür, wie Ibeyi wirkmächtig und scheinbar mühelos Grenzen für ein Miteinander durchbrechen. „Wir haben sehr früh bemerkt, welche Kraft unsere Musik bei Menschen auslösen kann und dass sie als verbindendes Element funktioniert. Wenn du das dann bei Konzerten auch leibhaftig siehst und spürst, ist es das schönste Gefühl überhaupt.“ Auf Tour (leider vorerst ohne Österreich-Termin) gehen Ibeyi diesen Herbst das erste Mal mit Band, doch die zwillingsschwesterliche Bande bleibt freilich undurchdringbar. „Spell 31“ versprüht auch die Botschaft der Gemeinschaft.

„Würde sich jeder einzelne selbst nur ein bisschen verändern, könnten wir alle zusammen die Welt sehr schnell verändern“, so Lisa-Kaindé, „nicht nur die Unterdrückten müssen gesunden, auch die Unterdrücker. Man sollte anderen nie sagen, was sie zu tun haben und was richtig oder falsch ist. Wir alle schleppen so viel Ballast von vorigen Generationen mit uns mit und glauben oft immer noch, Dinge würden nicht anders funktionieren. Diesen Kreis muss man durchbrechen.“ Notfalls auch mit einem kultigen Punksong wie „Rise Above“ der legendären Black Flag - obwohl die beiden Schwestern den Song bis heute nicht gehört haben, wie sie lachend versichern. „Richard hat uns den Text gezeigt und er hat einfach perfekt gepasst. Wir haben fünf Minuten lang mit dem Song herumgejammt und sofort gefühlt, dass er perfekt passt. Manchmal entstehen Track so unmittelbar. Das hat einen ganz besonderen Vibe.“

Ode an das Kindsein
Das Spielerische und Lockere ist Ibeyi besonders wichtig. Eine gewisse Art von Naivität, die man sich trotz des Drucks, vieler Erfolge und Unsicherheiten ob der kreativen Zukunft bewahren konnte. „Wir nehmen uns Kinder zum Vorbild. Sie spielen, entdecken und machen Fehler. Fehler sind für Kinder aber nicht schlimm, weil sie sich ausprobieren und daraus etwas lernen. Sie wachsen mit jeder Erfahrung. Erwachsene dürfen sich in dieser Gesellschaft keine Fehler erlauben. Sie sollten am besten aufhören individuell zu sein und müssen immer ihr Bestes geben, um Erfolg zu haben. Zumindest wird es dir immer so suggeriert.“ Ibeyi sehen nicht nur „Spell 31“, sondern ihre musikalische Reise ganz allgemein lockerer. „Das Leben ist eine lange Reise, die wir als Experimentierfeld sehen sollten. Macht euch frei von Zwängen und taucht in das Leben ein.“ Bei Ibeyi kann man ja durchaus adäquat beginnen.

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