Debüt „Heavy Heart“

Christoh und die Flucht aus der Komfortzone

Musik
27.10.2021 06:00

Als Frontmann des Gospel Dating Service hat sich Christoph Ertl einen verdienten Namen in der heimischen Indie-Szene gemacht - nur bewegt er sich als Christoh auf Solopfade - und unterzieht sich einer musikalischen und inhaltlichen Radikalkur. Wir haben uns mit dem Salzburger in seinem Fiakka Studio zum Gespräch getroffen und das Debüt „Heavy Heart“ analysiert.

(Bild: kmm)

Was so ein Fehler in einem Dokument manchmal alles auslösen kann. Christoh heißt eigentlich Christoph Ertl, stammt aus Salzburg und wohnt seit geraumer Zeit in Wien. Das Schicksal wollte es so, dass das zuständige Magistrat das „p“ in seinem Reisepass vergessen hat und der neue Name im Freundeskreis zu einem Running Gag wurde. Da so ein Vorkommnis auch den Weg zu einer neuen Identität beflügeln kann, hat sich der gute Mann nach dem Aus der famosen Indie-Band Gospel Dating Service dazu entschlossen, sich für seine neu eingeschlagenen Solopfade schlichtweg Christoh zu nennen. Hat also nichts zu tun mit dem kürzlich verstorbenen Enthüllungskünstler, den Ertl, wie er uns im Interview erzählt, noch nicht so lange kennt. „Als ich das erste Mal von ihm hörte, da hieß ich schon Christoh. Im Nachhinein hätte ich ihn natürlich gerne kennengelernt, das wäre sicher lustig gewesen.“ Bekanntschaften, Freundschaften und Zusammenarbeit sind drei Termini, die sich wie ein roter Faden durch das Wirken und Schaffen des sympathischen Vollblutmusikers ziehen. Denn auch wein Soloprojekt versteht Ertl alles andere als einen Alleingang.

PS beim Tüfteln
Auf seinem Debütwerk „Heavy Heart“ ließ er nicht nur seinen Gedanken freien Lauf, sondern textete gemeinsam mit Künstlerinnnen und Künstlern unterschiedlichster musikalischer Couleur. Miss Lead, Aunty, W1ZE, Meydo oder Rezar sind nur ein paar die vielen Indie-Namen, die sich mit Christoh Herz, Hirn und Seele teilten, um das Werk zu einem runden Ganzen zu gestalten. Zum Gespräch treffen wir uns in seinem gut beheizten Fiakka Studio im schönen Hernals. Ein ehemaliger Pferdestall, der seit geraumer Zeit Christohs Kreativwerkstatt ist. Hier wird geschrieben und aufgenommen, produziert und getüftelt. Wahlweise für sich selbst, aber sehr oft auch für andere, was mitunter einer der Hauptgründe ist, warum das eigene Werk ein bisschen länger gebraucht hat. Wenn er nicht gerade im 17. Bezirk an seinen Songs tüftelt, dann er ist zum Networken und Kreativsein in Berlin. So wie auch während des zweiten Lockdowns Ende 2020, wo eine kurze, aber umso intensivere Beziehung ihr Ende fand - wie man im Song „Don’t Say“ sehr gut hören kann.

„Ich habe in der Situation gemerkt, dass sich all das zwischen uns auf lange Sicht wohl nicht ausgehen wird, aber mich trotzdem voll reingestürzt. Das Lied entstand schon am Anfang meiner Beziehung, wo ich das Gefühl hatte, dass das Ende nicht gut sein könnte. In Berlin hat sich diese Vermutung bestätigt und ich habe mir die Erfahrung von der Seele geschrieben. Ich mag es, intensive Gefühlswelten zu verarbeiten und schlussendlich aufzunehmen.“ „Heavy Heart“ ist ein kunterbuntes Wellental der Emotionen. Es changiert musikalisch zwischen Indie-Pop und experimentellem Alternative, zwischen großen Bombast-Momenten und filigranen Passagen und auch zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Ein bisschen so, wie das echte Leben nun einmal spielt. Dass einem immer dann die Gnackwatschen verpasst, wenn vermeintlich alles perfekt läuft. „Die jeweilige Stimmung hat sich mit der Jahreszeit gedeckt. Im Sommer in Wien war alles wunderbar, in Berlin war es schwieriger. Als letztes habe ich “Enough„ geschrieben, im April dieses Jahres. Da merkt man dafür schon wieder die Aufbruchstimmung.“

Er hört die Signale
Christoh geht im Gespräch und auch auf seiner Debütplatte sehr offen mit seinen emotionalen Berg- und Talfahrten um. Der Dialog, ob privat mit Mensch oder im Studio mit Maschine, scheint ihm zu helfen und Kraft zu geben. „Ich habe auf ,Heavy Heart‘ wirklich viel verarbeitet und die letzten beiden Jahre waren sehr intensiv. 2019 bin ich in ein ordentliches Burn Out gerast und deshalb in meinen Texten hier sicher direkter, als es früher der Fall war.“ Wer den bienenfleißigen Christoh bei seiner vielseitigen Arbeit beobachtet, könnte auf den Gedanken kommen, er hätte es aus diesem Warnschuss nichts gelernt. Doch das Gegenteil sei der Fall. „Ich studierte noch, arbeitete nebenbei und nahm mir kein Wochenende frei, weil ich dauernd an der Musik schraubte. Heute versuche ich frühzeitig zu erkennen, wenn ich mich wieder in eine Art Wahn navigiere. Ich kann die Warnsignale aber wesentlich besser deuten und weiß, wann ich auf die Bremse treten muss.“

In seinen Songs handelt Christoh Themen ab, die sich von seiner Lebenssituation auf die große Allgemeinheit projizieren lassen. Es geht um Zwischenmenschlichkeit, toxische Beziehungen, Unsicherheiten und das Ja-Sagen zu Veränderungen, das etwa durch die Single „Golden Pages“ ausgedrückt wird. „Ende 2019 habe ich mit meiner besten Freundin Farah Deen Performance-Stücke erarbeitet. Ich habe nicht nur die Musik geschrieben, sondern aktiv daran teilgenommen. Es ging darum, die eigenen Grenzen bewusst zu überschreiten, seine Komfortzone zu verlassen und sich in unbekannte Gefilde vorzuwagen. Das war für mich ein großer Schritt, aber das Leben ist andauernd in Bewegung und ich will die Veränderung lobpreisen.“ Um sich im oftmals tristen Alltag auch wieder zu spüren, muss man aus dem eigenen Ring raus - oder ihn vielleicht bewusst betreten. „Ich habe unlängst eine Doku übers Boxen gesehen und möchte das unbedingt ausprobieren. Sport und Bewegung sind ein wichtiger Ausgleich, wenn man den ganzen Tag im Studio sitzt.“

Musik mit Message
Eine weitere Freundschaft, nämlich die zu Künstler Fabian Dankl, führte auch zum optisch herausragenden Cover-Artwork, das die innere Zerrissenheit und das Melancholische des Albums sehr gut visualisiert. „Es soll ein bisschen gesellschaftskritisch wirken“, erklärt Christoh, „es sieht aus, als würdest du in eine Glühbirne beißen, wobei du dich verletzt, aber es könnte auch Fleisch sein. Ich will jetzt nicht auf die Fleischesser losgehen, aber als Teil der westlichen Gesellschaft sollte man sich allgemein überlegen, was man so treibt. Man kann sich viele Schritte im Leben überlegen, denn im Endeffekt zerstört man sich selbst.“ Dass der Titel „Heavy Heart“ doch melancholischer klingt als das Album in seiner Gesamtheit, nimmt Christoh in Kauf. „Unterm Strich ist in den letzten zwei Jahren zu viel Scheiße passiert. Ein positiver Albumtitel hätte sich einfach falsch angefühlt. Wenn man so lange an einem Projekt arbeitet, gerät man in einen regelrechten Strudel und ich habe mir nicht ausgesucht, dass es mir manchmal nicht gut ging. Es ist eben so passiert.“

Der Sprung von der Band Gospel Dating Service zum Solokünstler hat sich für Christoh in mehrfacher Hinsicht ausgezahlt. Andererseits kann er sich nun an eine eher ungewöhnlich tiefe Stimme wagen, andererseits muss er keine konzeptionellen Kompromisse eingehen. „Ich kann jetzt machen was ich will und muss mich immer nur mit denjenigen arrangieren, die direkt am Song beteiligt sind. Das gibt mir viele Freiheiten.“ Diese Freiheiten führten während des Schreibprozesses auch zu ein paar Songs, die er ganz intim am Piano eingespielt hat. „Vielleicht mache ich daraus eine Klavier-EP, das brennt mir schon ein bisschen unter den Nägeln. Christoh gibt mir jedenfalls die Freiheit, aus dem bisherigen Soundkorsett ausbrechen zu können, auch wenn es natürlich schwierig wird, sich von den aktuellen Nummern freizustrampeln. Ich werde es aber auf jeden Fall probieren.“ So weit muss man aber ohnehin nicht vorgreifen, denn das gleichermaßen melancholische wie auch partiell sonnige „Heavy Heart“ ist noch in seinem Frühkindstadium und ermöglicht dem Hörer interessante Klangwelten, die sich stilistisch nur schwer einordnen lassen, aber definitiv international und global klingen.

Live in Wien
Die dazugehörige Release-Show gibt es am 26. November im Wiener Loft, wo Christoh so viele seiner Gesangsgäste wie möglich auf der Bühne begrüßen möchte. Seine ersten Sporen hat er sich einst als Support von Hozier im randvollen Wiener Konzerthaus verdient. „Der eigentliche Support fiel aus und ich bekam um 16 Uhr einen Anruf, ob ich um 20 Uhr auf der Bühne stehen könnte.“ Frei nach dem Motto „guat is g‘angen, nix is g’schehen“ resümiert Christoh positiv. „Mir ist das Herz in die Hose gerutscht, aber es war eine intensive und bereichernde Erfahrung.“ Eben wieder ein Schritt aus der Komfortzone. Und vielleicht wird ja auch bald ein weiterer Wunschtraum war. „Am liebsten würde ich mit Childish Gambino oder Anderson .Paak spielen.“

Loading...
00:00 / 00:00
play_arrow
close
expand_more
Loading...
replay_10
skip_previous
play_arrow
skip_next
forward_10
00:00
00:00
1.0x Geschwindigkeit
explore
Neue "Stories" entdecken
Beta
Loading
Kommentare

Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.

Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.

Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.



Kostenlose Spiele