„Wir fühlen mit“

Wie gut integrierte Afghanen über Heimat denken

Österreich
05.09.2021 06:00

Kabul - eine Stadt als Synonym für Gewalt und Versagen des Westens. Wie gehen gut integrierte Afghanen bei uns in Österreich mit dem Taliban-Horror um?

Jeder fünfte Afghane in Österreich gerät mit dem Gesetz in Konflikt. Drogenhandel, Bandenkonflikte, Gewalt gegen Frauen. Aber wo Schatten ist, da ist auch Licht. Viele Geflüchtete zeigen, dass die Integration bei uns sehr wohl funktionieren kann. Sie zittern jetzt um ihre Angehörigen in der Taliban-Hölle. So meint zum Beispiel die in Wien lebende Bürokauffrau Zahra (24) über ihre alte Heimat: „Sie ist mittlerweile ein Schlachthof.“ Auch der rasche Abzug der USA wird kritisiert.

„Sind Österreich für Hilfe dankbar“
„Frauen erleben Albträume unter den Taliban. Eine Rückkehr ist für uns ausgeschlossen“, so Maryajan Kazemi, die vor sechs Jahren mit ihrem Mann und dem damals einjährigen Sohn aus Afghanistan geflohen ist. Heute lebt die Familie in Güssing im Burgenland und ist traurig, dass sie während des Asylverfahrens nicht arbeiten darf. „Wir sind Österreich für die Hilfe sehr dankbar. Wir sind in Sicherheit und haben zu essen und zu trinken. Schade ist, dass ich als Lehrerin oder mein Mann als gelernter Installateur derzeit nicht arbeiten dürfen. Wir würden das sehr gerne“, so die 34-Jährige.

„Wir fühlen mit, was dort passiert“
Mehrmals hatten Fazel Rahman und seine Frau Malalai Stanikzai-Rahman die Möglichkeit, sich ein neues Leben in Europa aufzubauen. „Als wir bei Konferenzen in Griechenland oder Kroatien waren, wurde uns Hilfe angeboten, aber wir wollten unsere Heimat, die Familie und die Freunde nicht verlassen“, blickt der 63-Jährige zurück. Doch als 1992 die Bedrohungen schlimmer wurden, packte das Paar seine Habseligkeiten zusammen und brach ins Ungewisse auf.

„Den Moment an der afghanischen Grenze werde ich nicht vergessen. Seine Heimat zurückzulassen, ist einfach das Schlimmste“, erinnert sich die pensionierte Tierärztin. Wagma (23), Sarina (20) und Hewad (19) sind in Österreich geboren und studieren hier Medizin, Politikwissenschaften und Biologie. Sie fühlen sich in Wien zu Hause, aber auch die afghanische Kultur und Identität gehört zu ihnen. Die Familie hofft, dass ihre Heimat bald zur Ruhe kommt: „Wir leben in Wien, fühlen aber mit, was gerade in Afghanistan passiert.“

„Es ist ein Handelsplatz und Schlachthof zugleich“
Vor allem für eine Frau wie Zahra ist das, was gerade in Afghanistan vor sich geht, kaum auszuhalten. „Ich fühle mich so hilflos“, sagt die 24-Jährige. Einst war Zahra dort Mathematik-Lehrerin, mittlerweile lebt sie seit Jahren völlig integriert in Österreich. Sie arbeitet als Bürokauffrau, ist als Podcasterin tätig und engagiert sich als Menschen- und Frauenrechtsaktivistin.

Das Verhalten der Amerikaner ist für sie „absolut nicht in Ordnung. Wobei man betonen muss: Das betrifft die Politik, nicht einzelne Amerikaner.“ Doch mit diesem Abzug seien „die letzten 20 Jahre umsonst gewesen. Warum verhandelt man nach all diesen Jahren mit ihnen? Die Menschen haben so lange für ein neues Leben gekämpft - war das alles umsonst?“

Dass die Taliban sich gebessert hätten, sei ein Märchen, sagt sie: „Sie lügen, weil sie anerkannt werden wollen.“ Die Bevölkerung habe Angst: „Es kann jederzeit etwas passieren. Die Taliban können alles machen. Wenn sie auch noch von anderen Ländern anerkannt werden, ist alles zunichte. Das wirft uns z.B. bei den Frauenrechten ewig zurück.“ Der Bevölkerung drohten etwa Gewalt, Vergewaltigung, Zwangsheirat. Die Menschen hätten keine Jobs, nichts zu essen, könnten ihre Familien nicht ernähren und seien so gezwungen, für die Taliban zu arbeiten.

Dass fast alle Länder hier nur schweigend zuschauten, sei unverständlich: „Afghanistan ist heute Handelsplatz und Schlachthof zugleich.“ Dabei, fragt sich die junge Frau, „ist eine Generation, die unter so einer Herrschaft mit so einem Gedankengut aufwächst, nicht eine Bedrohung für die ganze Welt?“

„Das ist doch kein Leben!“
Adil (Name geändert) kann seine Sorgen um seine Familie und seine Verlobte in Afghanistan „gar nicht beschreiben“. Er selbst lebt längst gut integriert in Wien, steht kurz vor dem Lehrabschluss. Dass die Welt billigt, was in Afghanistan gerade passiert, kann er nicht verstehen: „Mit solchen Menschen wie den Taliban verhandelt man nicht. Die Bewohner leben in Angst: Wenn sie ihr Haus verlassen, wissen sie nicht, ob sie abends wieder heimkommen oder geschlagen werden. Das ist ja kein Leben!“

Vor allem um die Verlobte sorgt er sich. Er hatte gehofft, „zumindest sie retten zu können. Aber ich kann nichts tun.“ Schuldgefühle hat er, dass er hier sicher ist. Auf die Amerikaner ist er wütend: „Das hätte man anders machen können. So waren das 20 Jahre umsonst, so lassen sie die Leute im Stich.“ Sein Traum: irgendwann doch noch eine Familie mit seiner Verlobten in Sicherheit haben zu können.

Zwischen Hindukusch und Alpen
Laut aktuellen Schätzungen leben circa 50.000 Afghanen in Österreich. Exakte Zahlen liegen nicht vor, da viele illegale Einwanderer nicht erfasst sind. 35.000 Afghanen (Frauen, Kinder, aber vor allem auch Männer) aus dem Hindukusch-Land haben wir seit dem Krisenjahr 2015 bei uns Schutz geboten. Doch die Integration gestaltet sich oftmals schwierig. Im vergangenen Jahr gab es 4574 rechtskräftig positive Asylbescheide. Bis Juni dieses Jahres waren es 2142. Durch die schnelle Machtübernahme der Taliban wird an den grünen Grenzen nun mit wesentlich mehr Aufgriffen gerechnet.

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