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Grubinger: Vorteile in Zeiten des Virus

Salzburg
19.04.2020 08:00

„Jetzt lassen Sie den Mann doch mal in Ruhe.“ In den deutschen Wendejahren amtiert der erste und zugleich letzte demokratisch gewählte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière. Seine Aufgabe: Sein Amt, seine Regierung und auch sein Land abzuschaffen. Der deutsche Wiedervereinigungsvertrag sah das so vor. Das Zitat anfangs stammt von de Maizières Pressesprecherin, die damals das Zepter in de Maizières Presseabteilung schwang und recht resolut mit den örtlichen Medienvertretern umging, zugleich in den Interviews etwas Sympathisch-Schelmisches in ihren Gesichtszügen hatte: Angela Merkel.

Es ist faszinierend, wie oft kleine, zuerst als unbedeutend erscheinende Ereignisse im späteren Verlauf historischen Charakter annehmen und dem politischen Schicksal oft einen Streich spielen. Eigentlich wollte Angela Merkel, in früherer Zeit als Wissenschafterin betont unpolitisch, zuerst der SPD beitreten. Da die sozialdemokratischen Regularien aber eine Mitgliedschaft in einem Ortsverband vorsahen und Merkel das nicht behagte, schloss sie sich dem „Demokratischen Aufbruch“ an. Der ging in Teilen in der christlich-demokratischen Union (CDU) auf.

Dann ging es schnell - Bundestagsabgeordnete ab 1990, Ministerin unter Helmut Kohl und schließlich, nachdem Gerhard Schröder Kohl das Kanzleramt 1998 entrissen hatte, der Posten als Generalsekretärin der CDU. Man kann sich vorstellen, wie sich das die grauen Eminenzen in den gerade abgewählten Bonner CDU-Kabinetten vorgestellt hatten. Eine Partei am Boden! Soll doch die unbedarfte Frau aus dem Osten die Drecksarbeit machen!

Und wie so oft, haben sich alle politischen Freunde wie Gegner geirrt. Beobachtet man Merkels politische Karriere, die jetzt 30 Jahre andauert, dann sind zwei wesentliche Charakterzüge zu entdecken, die im politischen Leben offenbar ganz selten sind: Uneitelkeit und Lernfähigkeit.

In den 80er Jahren eher mit der SPD sympathisierend, findet sie sich als frisch gewählte Vorsitzende der CDU beim berühmten Reformparteitag in Leipzig 2003 mit einem wirtschaftsliberalen Programm härtester Prägung wieder. Liest man dieses Programm heute und betrachtet Merkels Wirtschaftspolitik als Kanzlerin der letzten 15 Jahre, dann ist davon gleich gar nichts übrig geblieben.

Selbiges in der deutschen Atomkraft-Politik: Wurde der beschlossene Atomausstieg von ihr in der Opposition massiv bekämpft und dann in der Koalition mit der FDP tatsächlich hinausgezögert, ging es nach der Tragödie im japanischen Fukushima ganz schnell. Merkel lernte - bekräftigte den Ausstieg und handelte.

In der Flüchtlingspolitik ein ähnliches Bild. Hatte sie zuerst in diversen Auftritten eine härtere Gangart im Umgang mit den dramatischen Ereignissen im Jahr 2015 gezeigt, hat sie, ganz Wissenschafterin, schnell analysiert und gegengesteuert. Auch ihr historisches Gespür hat sie in 15 Jahren Kanzlerschaft nie im Stich gelassen.

Und jetzt Corona. Merkel hält nicht jeden Tag eine Pressekonferenz ab, sie tingelt nicht von einem Fernsehstudio ins nächste, sie leitet keine Pressekonferenz mit dem demonstrativen Einzug der Schutzmasken-Armada ein, sie lässt keine Plexiglas-Wände zwischen sich und den Pressevertretern aufbauen. In all diesen Wochen, die Deutschland besonders unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten besser als alle anderen europäischen Länder zu überstehen scheint, belässt sie es bei wenigen Auftritten.

Dann aber hat sie wirklich etwas zu sagen. Kein Geschwurbel, keine Show, keine nichtssagenden Dauer-Halbsätze. Sondern die präzise Analyse einer Wissenschafterin, die, um es in Abwandlung mit Rudolf Augstein zu sagen, nüchtern erklärt, was ist. Ihr größter Vorteil: Sie nutzt sich nicht ab. Weder als Persönlichkeit noch als politische Kraft. Wer hätte gedacht, dass Angela Merkel, einst als Ministerin verächtlich „Kohls Mädchen“ genannt, im historischen Kontext ihren politischen Ziehvater wohl schon eingeholt hat.

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