3-Stunden-Monsterset

(A)live in der Stadthalle: Pearl Jam in Hochform

Musik
26.06.2014 07:00
Bombenstimmung in der Wiener Stadthalle: Am Mittwochabend gab es das heiß erwartete Wien-Comeback der US-Grunge-Ikonen Pearl Jam. Das seit Monaten ausverkaufte Konzert wurde zu einem Triumphzug für eine tot geglaubte Musikrichtung. Drei Stunden und 35 Songs lang sorgten Eddie Vedder und Co. für Ekstase im Publikum.
(Bild: kmm)

Oft ist weniger mehr. Das beste Beispiel dafür sind Pearl Jam. Erstmals 1992 als neue Grunge-Sensation in Wien, 2000 auf dem Salzburger Residenzplatz, dann erst wieder 2006 in der Stadthalle und 2007 Headliner beim Nova Rock Festival. Die wohldosierten Auftritte des Seattle-Sextetts fördern bei ihren unzähligen Fans vor allem eines: unstillbaren Hunger nach ihren Idolen. Im Zuge ihrer kurzen Europa-Tour lassen sich Eddie Vedder und Co. an diesem regnerischen Juniabend endlich wieder blicken. Die Stadthalle war schon seit Monaten ausverkauft, im Publikum entdeckt man Fahnen aus exotischen Ländern wie Kanada, Brasilien oder der Ukraine. Die Staaten verraten: Nicht alle Flaggen sind Fußball-WM-kompatibel.

Großer Querschnitt
Das sportliche Großereignis ist aber ohnehin jedem egal, denn von Pearl Jam weiß man hinlänglich, dass nicht nur eine gute, sondern vor allem eine lange Show geboten wird. Daher ist auch keine Vorband nötig, denn die Nordamerikaner können mit mittlerweile zehn Studioalben aus dem Vollen schöpfen. Bis auf das unterschätzte "Binaural" (2000) servieren Pearl Jam dem Publikum Songs aus jedem Werk der üppigen Vergangenheit.

Es ist eine Zelebration, eine Messe zwischen den priesterlichen Musikern und ihrem treuen Gefolge im Auditorium. Bei jedem Ton, bei jeder Bewegung, fast schon bei jedem Atemzug tosender Applaus, donnernder Jubel, begeistertes Gekreische. Grunge als Plattform für Teenie-Verhalten – vor zwei Dekaden undenkbar, heute offenbar Usus. Verdient haben es sich die Heroen auf der Bühne allemal. Mit "Long Road" und "Can't Keep" starten sie noch etwas verträumter in ihr Set, das übrigens allabendlich wechselt und niemals gleich klingt, ab "Black" vom legendären Debütalbum "Ten", neben Nirvanas "Nevermind" wohl die bekannteste Referenz für Seattle-Grunge, ist der Triumphzug nicht mehr aufzuhalten.

Zeitlose Songklassiker
Dass Pearl Jam die einzige Seattle-Band ist, die niemals Schiffbruch erlitt und seit mehr als zwanzig Jahren Erfolg hat, manifestiert sich in einer schier endlosen Auswahl an zeitlosen Songklassikern. Ob das ruppig-vehemente "Spin The Black Circle", das mit Ohrwurm-trächtigen Riffs veredelte "Severed Hand", die aktuellen Songs "Lightning Bolt" und "Mind Your Manners" oder das überraschend eingestreute Beatles-Cover "The Rain" – Pearl Jam überzeugen querbeet durch alle Stilrichtungen und Tempi mit Spielfreude, musikalischer Fingerfertigkeit und der immer noch einzigartigen und flexiblen Stimme von Eddie Vedder.

Sensationell fällt an diesem Abend die The-Who-Coverversion von "Baba O'Riley" aus, die tatsächlich jeden einzelnen Besucher aus dem Sitz hebt. Vedder läuft die Bühne auf und ab, rund zehntausend Menschen strecken ihm von den Stehplätzen die Fäuste entgegen. Der einstige Tankwart ist dabei immer noch der nette Typ von nebenan und zieht gerne an der mitgebrachten Rotweinpulle. Das leichte Wohlstandsbäuchlein sei ihm kurz vor dem 50er (23. Dezember) vergönnt.

Aufsteigende Gänsehaut
Besonders fein ertönen Pearl Jam, wenn sie ihrer Kreativität freien Lauf lassen und sich in einen instrumentalen Rausch spielen. So ist das etwa zehnminütige "Even Flow" ein frühes Highlight, da sich die halsbrecherischen Soli von Mike McCready unweigerlich in die Gehörgänge einnisten. Herausragend auch das mit Stroboskop-Lichteffekten unterlegte "Rearviewmirror" und der Gänsehaut verursachende Akustikteil, der unter anderem aus dem von Vedder solo gespielten Neil-Young-Cover "The Needle And The Damage Done", "Speed Of Sound" und "Footsteps" besteht.

Zeit für große Ansprachen gibt es in den drei Stunden nur wenig, schließlich lebt die Band für die Musik. Wenn sich der schüchterne und sympathisch stotternde Frontmann aber doch zu Zoten hinreißen lässt, dann liest er bemüht und humorig deutsche Sätze von einem vorgeschriebenen Zettel, rät vom LSD-Gebrauch ab und bittet das Wiener Publikum "Onkel" Neil Young in ca. einem Monat zu sagen, dass seine "Neffen" hier waren. Sehr angenehm ist auch die Tatsasche, dass Eddie Vedder nicht Bono spielt und mit den vielen sozialen Kampagnen der Band prahlt, sondern die Hits sprechen lässt.

Ein paar Stunden Anarchie
Vor allem die ganz alten lassen im Zuschauerbereich ein wohliges Gefühl der Nostalgie aufkommen. "Why Go", "Porch" oder "Daughter" waren Hymnen für eine ganze Generation wütender Kids, die sich mit dem bodenständigen Flanellhemden-Sound der frühen 90er-Jahre gegen Establishment und Yuppietum gestellt haben. Auch wenn sich so mancher heute selbst in der einst bekämpften Spirale des tristen Alltags befindet – zumindest ein paar Stunden lang kocht die innere Anarchie dank Pearl Jam wieder auf.

Schon dafür möchte man Eddie Vedder danken, der beim allergrößten Band-Hit, dem ewigen Ohrwurm "Alive", auch zu seinen Fans emporsteigt, mit ihnen interagiert und verschiedenste Geschenke annimmt. Wenn doch nur der Sound in der Stadthalle gut wäre. Der einzig negative Beigeschmack an diesem 35 Song-Kapitel starken Abend. Selbst Vedder lässt kein gutes Haar an der Anlage und erzählt bereitwillig, dass er kurzfristig dachte, in der am schlimmsten klingenden Halle aller Zeiten zu sein.

Probleme mit der Popularität
Es wirkt von Jahr zu Jahr kurioser, dass eine Band, die ursprünglich nichts anderes als abseits des Rock-Mainstreams für Aufregung im Underground sorgen wollte, zu den beliebtesten Gruppen der Welt zählt. Eddie Vedder hat zeitlebens Probleme mit seiner Popularität – ein wesentlicher Faktor dafür, dass sich Pearl Jam seit jeher gegen gängige Normen des Geschäfts stellen und nicht oft mit Interviews oder Marketing-Aktionen auffallen. Diese angenehme Zurückhaltung merkt man Vedder wohl bis zum Ende seiner (Bühnen-)Tage an.

Wohl das größte Geheimnis des Pearl-Jam-Erfolgs: solide Hemdsärmeligkeit statt anbiedernder Effekthascherei. Ein allzu oft verlorenes Gut im modernen Pop/Rock-Zirkus. So singt Vedder unermüdlich "I'm still alive" – und wir alle sind mehr als froh darüber, dass das auch wirklich stimmt.

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