EU-Präsidentschaft

Wo Krise ein Fremdwort ist: Polen übernimmt EU

Ausland
24.06.2011 18:40
Wer heutzutage – von Griechenland geplagt – aus Euro-Land kommt, wird in Polen verständnisvoll bemitleidet. Polen und Krise, das war einmal. Polen heute bedeutet: starker Zloty und seit 20 Jahren hohe Zuwachsraten. Im Krisenjahr 2009 war es das einzige EU-Land ohne Wirtschaftseinbruch. Am 1. Juli übernimmt Polen im Rotationsverfahren für das zweite Halbjahr nun erstmals die EU-Präsidentschaft (im Bild: die Regierungschefs von Ungarn und Polen, Viktor Orbán und Donald Tusk). Ein Lokalaugenschein von Kurt Seinitz.

Polen ist mit 38 Millionen Einwohnern nicht nur der seit 2004 größte Neuling der EU, es ist auch der Wirtschaftsstar bei der großen Aufholjagd (allerdings von einem niederen Niveau aus). Am Beispiel Polens könnte Griechenland lernen, was Wirtschaftsdynamik heißt. Sogar das Problem mit der unproduktiven Landwirtschaft hat sich zu einem Exportwunder gewandelt, wenn auch die Modernisierung der Kleinbetriebswirtschaft noch eine große Strecke vor sich hat.

Polen ist die "größte Baustelle in Europa"
"Polnische Wirtschaft": Das war einmal ein Schimpfwort. Heute ist es ein Qualitätsbegriff. Polen gilt als "größte Baustelle in Europa" (außer der deutschen Ex-DDR) – und österreichische Firmen verdienen fleißig mit. Laut Urteil aus Brüssel hat Polen die EU-Fördermittel "klug eingesetzt und davon profitiert". Den USA-europäischen Finanz- und Wirtschaftskollaps 2008/2009 hatten in der EU die Polen und Schweden am besten bewältigt, gefolgt von den Niederländern und Österreichern.

Das selbstbewusste Polen hat seit dem Ende der KP-Herrschaft vor 23 Jahren jenen Status erreicht, den es auch zielstrebig anpeilte: Es wurde ein wichtiger Mitspieler in Europa. Und besonders "stolz auf das Erreichte" ist Nationalheld Lech Walesa. Die polnische EU-Präsidentschaft ist der Höhepunkt seines Lebenswerkes. (Der Ex-Präsident war soeben in Tunesien, um den dortigen Neo-Demokraten Nachhilfeunterricht zu erteilen.)

Ansturm aus Polen ist ausgeblieben
Die jüngste Öffnung des Arbeitsmarktes in Österreich (als dem neben Deutschland letzten EU-Land) hat erwartungsgemäß keinen Ansturm polnischer Arbeitskräfte ausgelöst. Diejenigen, die weg wollten, waren schon weg: zwei Millionen Polen seit 2004. Erst hatten sie ihr Geld nach Hause überwiesen. Jetzt kehren sie zurück und bereichern mit ihren Erfahrungen aus dem Westen den modernen Weg der polnischen Wirtschaft.

Polen ist selbst ein – inoffizielles – Immigrationsland, vorwiegend aus seiner östlichen Nachbarschaft. Die Zahl wird auf bis zu 400.000 geschätzt, die meisten als "Illegale". Dennoch hat Polen keine Anti-Ausländer-Partei.

Börse in Warschau rivalisiert mit Wien
Polen ist eine ziemlich junge Nation. Jeder zehnte Student in Europa ist ein Pole. Die Nachwuchsgeneration polnischer Wirtschafts- und Finanzmanager hat im zentral-osteuropäischen Raum Großes vor. Die zwanzig Jahre junge, hypermoderne Börse hat den Ehrgeiz, der Börse von Wien im Ostgeschäft den Rang abzulaufen.

90% Strom aus Kohle; das erste AKW geplant
Ein Pferdefuß des polnischen Wirtschaftswunders ist die bisherige Vernachlässigung von umweltfreundlichen Energiequellen – eine Folge der reichlichen Kohlevorkommen. Noch immer gewinnt Polen elektrischen Strom zu 90 Prozent aus der preisgünstigen Kohle.

Da es mit den Abgasen dieser Dreckschleudern so nicht weitergehen kann und hartnäckiges Misstrauen gegen Russland als monopolistischen Gaslieferanten besteht, ist das erste Atomkraftwerk als eine "leider unerlässliche" Überbrückungsmaßnahme geplant – trotz des nahen Tschernobyl und auch nach Fukushima.

Polen keine europäische Nervensäge mehr
Die polnische Innenpolitik hat sich relativ beruhigt. Die junge Demokratie ist den Kinderschuhen entwachsen, weil der berüchtigten "EU-Nervensäge" Kaczyñski die Modernisierungsverlierer als Stimmvieh abhandenkommen. Die Fördergelder haben EU-Skeptiker lahmgelegt und kritische Stimmen verstummen lassen (weil diese selbst davon profitieren). Es entwickelt sich sogar so etwas wie eine Sozialpartnerschaft. Dadurch wurden im Krisenjahr 2008/2009 durch pragmatische Notmaßnahmen Panikerscheinungen vermieden. Bei den Wahlen im Herbst hat Kaczyñski keine Chance auf Rückkehr als Regierungschef.

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