Rivalen-Hochburg

“Die ist verrückt”: Timoschenkos Haft im Feindesland

Ausland
03.04.2012 19:05
Über Schlammpisten und durch tiefe Schlaglöcher führt der Weg zum Straflager von Julia Timoschenko. Anzeichen, dass eine der beliebtesten Politikerinnen des Landes hier ihre international kritisierte siebenjährige Haftstrafe wegen Amtsmissbrauchs absitzt, gibt es kaum. Am schweren Metalltor kleben keine Bilder mit ihrem Konterfei oder Blumen, auch Unterstützer campieren nicht im heruntergekommenen Viertel Katschanowka am Rande der ostukrainischen Stadt Charkow...

Doch schon bald soll sich die Tür mit dem ukrainischen Wappen für die 51-Jährige öffnen. Die erkrankte Oppositionsführerin kommt in eine Klinik. Einige Experten sehen darin den ersten Schritt zu einer Behandlung in der Berliner Charité, wie sie die deutsche Regierung und die Klinik anbieten. Seit einem halben Jahr klagt Timoschenko über starke Rückenschmerzen. Von einem Bandscheibenvorfall ist die Rede. "Schwer krank" lautet der Befund des Charité-Neurologen Karl Max Einhäupl.

Mit Timoschenkos Verlegung in eine Spezialklinik will die Ex-Sowjetrepublik vor der Fußball-Europameisterschaft Schönwettermachen im Westen, sagen Politologen. Keine Kritik am Co-Gastgeber solle das Turnier im Juni überschatten, das die Ukraine gemeinsam mit Polen ausrichtet. Auch Charkow, rund 450 Kilometer östlich von Kiew, ist Spielort.

Propagandakrieg um Meinungshoheit
Die Europäische Union nennt Timoschenkos Strafe politisch motiviert und verlangt für die Unterschrift unter ein Assoziierungsabkommen ihre Freilassung. Timoschenkos Verteidiger Sergej Wlassenko und die Behörden liefern sich seit Monaten einen Propagandakrieg um die Meinungshoheit. Kann sich Timoschenko bewegen oder nur liegen? Hat sie eine Dusche in ihre Zelle gebaut bekommen? Bis ins Detail rangen beide Seiten um eine Untersuchung durch ausländische Ärzte, darunter zwei Spezialisten der Charité.

Kein Mitleid im Feindesland
In Charkow, der zweitgrößten ukrainischen Stadt, kann Timoschenko nicht auf Mitleid hoffen. Hier hat ihr prorussischer Rivale Viktor Janukowitsch seine Hochburg. Gegen den Staatschef hatte die Politikerin 2010 die Präsidentenwahl verloren. Die Industriemetropole Charkow mit etwa 1,8 Millionen Einwohnern ist für die Frau mit dem blonden Haarkranz Feindesland.

Für die allermeisten in der wohl am meisten sowjetisch geprägten Stadt des Landes ist Russisch Muttersprache, die Bande zum nahen Nachbarn Russland sind enger als zu den Landsleuten im Westen. Ukrainisch verstehen sie kaum, die Staatssprache findet sich fast nur auf offiziellen Mitteilungen und in der Metro.

Bevölkerung auf "Gasprinzessin" nicht gut zu sprechen
"Timoschenko hat Dreck am Stecken, das ist klar. Die sitzt zu Recht im Knast", meint der Bankangestellte Pjotr. "Gasprinzessin" wird Timoschenko oft genannt. Kritiker werfen ihr undurchsichtige Geschäfte vor, mit denen sie in den chaotischen 90er-Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion reich geworden sei.

Auch Taxifahrer Igor ist nicht gut auf die Ikone der prodemokratischen Orangenen Revolution von 2004 zu sprechen. "Die ist doch verrückt", schimpft der 46-Jährige. Timoschenko sei selbst schuld an ihrer Lage - warum habe sie nicht ihre politischen Gegner ausgeschaltet, als sie dazu in der Lage war? "Jetzt hat sie den Salat", sagt Igor und zuckt mit den Schultern.

Ausreise wäre für Janukowitsch vermutlich ein Triumph
Lässt die Ukraine Timoschenko nun tatsächlich nach Deutschland ausreisen, könnte ausgerechnet Janukowitsch am Ende als Gewinner dastehen. Er hätte den Weg frei gemacht für bessere Beziehungen mit dem Westen - und sich zugleich einer möglichen Rivalin für die nächste Präsidentenwahl 2015 entledigt. In aktuellen Umfragen liegt Timoschenko nur zwei Prozentpunkte hinter dem Amtsinhaber.

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