Wie kehrt man an einen Ort wie das BORG Dreierschützengasse zurück, nach allem, was passiert ist? Psychiater Manfred Walzl empfiehlt, den jungen Menschen die Wahl zu lassen und sie in Kleingruppen zu betreuen.
Neun Schüler und eine Lehrerin wurden am Dienstag im Grazer BORG Dreierschützengasse kaltblütig ermordet. Mehrere hundert Schülerinnen und Schüler hörten die Schüsse, rannten um ihr Leben, verbarrikadierten sich. Manche haben dem Amokschützen in die Augen geschaut. Am Montag blieb die Schule leer. Administrator Norbert Urabl sagte gegenüber dem ORF, dass „sehr viele Stimmen“ für eine Rückkehr laut werden. Statt Unterricht soll es betreute Projekte geben.
Gerichtspsychiater Manfred Walzl fasst zusammen: Jeder Überlebende, jeder Betroffene hat andere Bedürfnisse. „Es gibt drei Optionen: In die Schule zurückkehren, in einem Nebengebäude weitermachen oder zu Hause bleiben.“ Nicht ideal sei es, die Schule in ein anderes Gebäude „auszusiedeln“, sagt Walzl. In einen nicht betroffenen Trakt oder Gebäudeteil könne man eventuell zurückkehren, aber wohl nicht in die Klassenzimmer, so der Gerichtsgutachter.
Wie es mit dem Schulgebäude weitergeht, werden Hinterbliebene, Schüler und Lehrer diskutieren müssen. Die Columbine High School in Colorado (USA), die durch ein Schulmassaker weltberühmt wurde, gibt es auch heute noch. Sie wurde renoviert, die Bibliothek, in der die Täter vor allem mordeten, wurde abgerissen und mit der neuen „Hope Columbine Memorial Library“ ersetzt.
Schlafstörungen und „Flashbacks“ sind üblich
In Graz geht es nun darum, „den Schülern die Wahl zu lassen“, so Walzl. „Es kommt auf die Resilienz, also auf die psychische Widerstandskraft des Einzelnen an.“ Nach wenigen Tagen setzt die Realisation erst so richtig ein. Die Betroffenen können Schlafstörungen erleiden, grübeln und haben „Flashbacks“. „Das ist eine enorme akute Belastung, aber sie kann mit professioneller Unterstützung überwunden werden.“ Ein Pilot müsse nach einem Unfall auch wieder ins Flugzeug steigen – sonst können sich Ängste festsetzen. Wer zurück in die Schule möchte, dem solle das deswegen in Kleingruppen und mit Betreuung möglich gemacht werden.
Dauert der Zustand länger als sechs Monate, kann sich eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. „Der Begriff wird zwar recht inflationär verwendet, aber das Ereignis in Graz ist jedenfalls geeignet, eine solche auszulösen.“ Sozialer Rückzug und schwere depressive Phasen sind die Folge.
Matura „vernünftig“ geregelt
Lobende Worte findet Walzl für die Maturaregelung, die für das BORG Dreierschützengasse nun erlassen wurde: Schüler können wählen, ob sie die Jahresnoten übernehmen oder noch Prüfungen ablegen wollen. „Das ist sehr vernünftig. Wieso soll man jetzt noch einen Zwang aufbauen? Die meisten Schüler haben nicht den Kopf, um für die Matura zu lernen.“
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