Baustelle Republik

Das politische ABC bis zum Kurz-Rücktritt

Politik
10.10.2021 11:28

Seit Mittwoch gab es innenpolitisch eine täglich steigende Dramatik. Immer unglaublichere Chats sowie neue strafrechtliche Ermittlungen gegen den Bundeskanzler und sein Umfeld haben zum Rücktritt von Sebastian Kurz geführt. Peter Filzmaiers Abc dazu fasst politische Knackpunkte und Kuriositäten zusammen. 

A**** Mit diesem ordinären Wort fürs Hinterteil bezeichnete Sebastian Kurz seinen Vorgänger als Parteichef der ÖVP, Reinhold Mitterlehner. Rücktrittsgrund war aber weder das noch ein A wie Anklage. Ob es gegen Kurz zu einer solchen kommt, bleibt offen. Der nunmehrige Ex-Kanzler kam bloß zuvor, dass ihm am Dienstag im Parlament von der Mehrheit unserer Volksvertreter das Misstrauen ausgesprochen wird.

Bundespräsident: Alexander Van der Bellen hätte verfassungsrechtlich einen Bundeskanzler sogar entlassen dürfen. Danach, nach einem parlamentarischen Misstrauensvotum und nach einem Rücktritt kann der Präsident jeden volljährigen Österreicher zum Kanzler oder Minister machen.

Corona: Zuletzt waren das Kanzleramt und viele Regierungsbüros mehr mit sich selbst beschäftigt als die Pandemie zu bekämpfen. Umgekehrt konnten sich SPÖ, Grüne und Neos mit der FPÖ als Allianz gegen die ÖVP über vieles einigen. Kaum jedoch über neue Coronamaßnahmen.

Duldung: Eine Minderheitsregierung hätte keine Parlamentsmehrheit, wird jedoch von anderen Parteien geduldet. Also nicht abberufen. Weil die FPÖ das für eine Koalition von SPÖ, Grünen und Neos ablehnt, war so eine Variante stets unwahrscheinlich.

Entschließungsantrag: Formal wäre die Abstimmung, ob dem Kanzler vertraut oder misstraut wird, ein solcher gewesen. Er muss im Parlament - konkret im Nationalrat - am selben Sitzungstag behandelt werden. Nämlich übermorgen am Dienstag.

Finanzen: Eigentlich sollte im Nationalrat nächste Woche die Budgetrede des Finanzministers im Mittelpunkt stehen. Ob Gernot Blümel sie auf jeden Fall gehalten hätte beziehungsweise ob er sie nun nach dem Kurz-Rücktritt am Mittwoch doch hält, das bleibt noch offen.

Geld: Sebastian Kurz hat im Fernsehen etwas dementiert, was ihm keiner vorwirft. Niemand behauptet, er hätte sich jemals irgendwie bereichert. Die Ermittlungen gegen ihn und sein Umfeld drehen sich darum, ob unerlaubterweise Steuergeld aus einem Ministerium für Umfragen im Parteiinteresse verwendet wurden.

Hausdurchsuchung: Mit einer solchen im Kanzleramt, der ÖVP-Parteizentrale und einer Boulevardzeitung begann vor fünf Tagen die jetzige Regierungskrise.

Immunität: In Österreich dürfen Regierungsmitglieder nur dann nicht angeklagt werden, wenn sie auch Abgeordnete sind, was in der Regel nicht der Fall ist. Zudem bezieht sich diese Immunität nicht auf mögliche Straftaten, sondern Äußerungen im Rahmen der politischen Tätigkeit.

Jugend: Es fällt auf, dass die inzwischen berühmten und berüchtigten Chats von vergleichsweise jugendlichen politischen Akteuren im Umfeld des Kanzlers geführt wurden. Andere Politiker wurden wenig freundlich als „alte Deppen“ bezeichnet.

Koalition: Dass eine ÖVP mit Sebastian Kurz und die Grünen nochmals koalieren, das erschien - Neuwahlen hin oder her - ebenso unmöglich wie Kurz-ÖVP mit SPÖ, Grünen, Neos oder Kickl-FPÖ. Dreier- oder Vierervarianten mit der FPÖ wären mindestens genauso schwierig.

Liste MFG: Das sind Coronaverharmloser und Impfgegner, die in Oberösterreich den Einzug in den Landtag geschafft haben. Käme es zu Neuwahlen, sind sie vielleicht der Gewinner. Weil man nun zusätzliche Proteststimmen aufsammeln kann. Zieht die MFG in den Nationalrat ein, werden Koalitionsmehrheiten noch komplizierter.

Misstrauensvotum: Das ist die banale Frage an jeden der 183 Nationalratsabgeordneten, ob man oder frau Sebastian Kurz politisch misstraut. Ja oder nein? Eine Ja-Mehrheit schien sicher, das wollte Kurz nicht abwarten. Das sagt aber nichts darüber aus, ob er sich strafrechtlich etwas hat zuschulden kommen lassen oder nicht.

Neuwahlen: Wahlen können in einer Demokratie nichts Schlimmes sein. Auch nicht im Fall vorgezogener Neuwahlen nach dem Ende der türkis-grünen Regierungskoalition. In der Verfassung oder den Gesetzen sind sie allerdings nicht vorgeschrieben. Daher kann es sie geben und muss sie nicht geben.

ÖVP: Die Volkspartei musste entscheiden, ob sie ein „Alles oder nichts!“-Spiel des Sebastian Kurz bis zum Ende mitmacht. Für Kurz ist die Sache klar: Durch seinen Rücktritt ist er für längere Zeit raus aus dem Kanzleramt. Die ÖVP freilich kann ohne ihn weiter in der Regierung bleiben. Inklusive des Kanzlersessels für Alexander Schallenberg.

Poker: Neuwahlen gleichen für jede Parlamentspartei einem „all in“ beim Poker. Alle setzen alles ein, ohne dass irgendwer weiß, wie seine Karten sind. Ein blinder Einsatz sozusagen.

Rechts: Mit rechter oder linker Ideologie hatte die derzeitige Krise nichts zu tun. Die sehr rechte FPÖ war sich ausnahmsweise mit den rechtsliberalen Neos sowie SPÖ und Grünen als linksorientierten Parteien einig.

Spekulationen: Wer gestern behauptete, schon mit Sicherheit zu wissen, was politisch heute passiert, der schwindelte gewaltig.

Thomas: Thomas Schmid, den ehemaligen Generalsekretär im Finanzministerium als Absender und Empfänger zahlloser Chatnachrichten über Postenbesetzungen und Medienbeeinflussung, will plötzlich niemand so genau gekannt haben. Obwohl er Netzwerke der ÖVP koordinierte, man sich Bussis schickte und Sebastian Kurz ihn früher einen Freund nannte.

Umfragen: Kann man mit gekauften Umfragen die öffentliche Meinung beeinflussen? Nicht so, dass es beim Wahlverhalten 1:1 wirkt. Doch sollen mehr als ein Drittel aller wahlbezogenen Zeitungsumfragen 2016/17 geschönt und verfälscht gewesen sein. Das könnte das Stimmungsbild unter Anhängern und Funktionären der ÖVP für Sebastian Kurz verstärkt haben.

Verfassung: Sie ist - so sagte 2019 der Bundespräsident - wunderschön und bietet Lösungen für fast alle Konfliktfälle und Blockadesituationen in der Politik. Voraussetzung dafür ist ein demokratiepolitischer Grundkonsens aller Parteien.

Zerreißprobe: Die Koalition von ÖVP und Grünen ist fast zerrissen. Vielleicht stehen beiden Parteien zudem interne Zerreißproben bevor. Im schlimmsten Fall droht das der Republik, sollte aus der Regierungskrise eine Staatskrise werden.

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