„Norwegian Gothic“

Årabrot: Grauer Sound der spirituellen Einsamkeit

Musik
14.04.2021 06:00

Mit ihrem bereits zehnten Album „Norwegian Gothic“ vollfüllen Kjetil Nernes und Karin Park aka Årabrot endgültig ihre musikalischen Visionen. Die 16 Songs sind eine dunkelgraue Werkschau aus New Wave-, Grunge-, Noise-, Folk- und Jazz-Zitaten mit viel Liebe zum Detail und nordischer Spiritualität. Schubladen waren gestern.

(Bild: kmm)

Die Geschichte ist einfach zu gut, um sie nicht zu erzählen. 2009 lernten sich Kjetil Nernes und Karin Park auf einer verrückten Party im malerischen Bergen kennen und veränderten über Nacht ihre beiden Leben. Nernes stammt aus dem norwegischen Haugesund, gründete 2001 seine Band Årabrot, die er nach einer Mülldeponie in seiner Heimat benannt hat, um seiner ausufernden Liebe für krude Klänge freien Raum zu geben. In diesem Fall bedeutete das einen wilden Stilmix aus 90er-Seattle-Grunge, Post-Punk, New Wave, maschinell-kühle 80er-Elektronik und - wie sollte es in Norwegen anders sein - Black Metal. Ein Weirdo in einem nicht immer leicht verständlichen Land, das musikalisch so bunt leuchtet wie ein Glasprisma im Sonnenlicht. Wechselnde Mitstreiter säumen über die Jahre Nernes Weg, aber Schritt halten kann mit ihm keiner. Ein kreativer Eigenbrötler mit wenig Sinn für Teamplay.

Magische Fügung
Karin Park war zum Zeitpunkt des Kennenlernens bereits ein skandinavischer Popstar. Geboren im schwedischen 400-Seelen-Kaff Djura, wo sich märchenhaft rotbemalte Häuser an kühle Tümpel schmiegen, wollte sie schon immer mehr. Mit 7 zog sie samt Familie nach Japan, nach der Rückkehr mit 15 alleine nach Stockholm. Nachdem sie die Schulbank mit Popstar Robyn drückt, folgt 2003 das Folk-Pop-Debütwerk „Superworldunknown“ und ein leidlich unfairer Vertrag mit dem Branchenriesen Universal Music. 2004 folgt der norwegische Grammy als „Newcomer Of The Year“, aber glücklich wird Park nicht. Sie liebt dunklere Klänge von Depeche Mode bis Kraftwerk und will sich vom unschuldigen Blumenkranzimage lösen. Die schicksalshafte Begegnung mit Nernes kommt genau richtig, denn Park wird nicht nur seine Ehefrau, sondern mischt auch bei Årabrot mit. Die beiden zogen vor knapp zehn Jahren in eine verlassene Kirche nach Djura zurück und leben seither dort ihr fremdartig wirkendes Kreativleben.

„Wir sind beide keine religiösen Personen“, erzählt Nernes der „Krone“ im Interview, „maximal spirituell. Für mich war es damals wichtig aus meinem bestehenden Umfeld auszubrechen. In dieser ehemaligen Kirche ist die Atmosphäre atemberaubend. Der Umzug und die damit einhergehenden Veränderungen waren aber größer als ich anfangs dachte.“ Dazu gibt es, wie sollte es bei Årabrot auch anders sein, natürlich wieder eine Geschichte. Vor fast exakt sieben Jahren erkrankte Nernes an einem bösartigen Kehlkopfkrebs. Die gerade angelaufene Tour in Großbritannien schien die letzte seines Lebens zu werden. Park wollte ihrem Mann zuliebe abbrechen, merkte aber, dass Nernes nicht ohne Kunst existieren konnte. Er zog die Tour als Sänger und Frontmann der Band durch, begab sich dann in eine intensive Therapie - und besiegte den Krebs wie durch ein Wunder. Seitdem hat sich nicht nur das Leben, sondern auch die Musik der Band erheblich verändert. Und der Tod ist ein unsichtbarer, stiller Begleiter.

Schnitt zur Halbzeit
„Mein Leben ist seit diesem Vorfall in zwei Kapitel unterteilt. Jenes vor dem Krebs und jenes danach.“ Das 2016er-Album „The Gospel“ behandelte ausführlich die Nachwirkungen des Schicksalsschlages, erst mit dem Nachfolger „Who Do You Love“ (2018) fanden Årabrot wieder in die Spur zurück. Doch was ist überhaupt die Spur? Der Wechsel von krachendem Noise hin zu elegischen Kompositionen ist schon vor Jahren erfolgt. Nernes hat in seinem Lebensprojekt auch einen klaren Schnitt gezogen. „Das Leben von früher kommt mir heute so vor wie ein Cartoon. Ich war so jung und unbedarft, wusste noch nicht einmal, wie man eine Gitarre stimmt, obwohl ich schon Alben aufnahm. Die frühen Platten sind für mich so weit entfernt wie meine Kindheit. Damals mussten wir unsere jugendliche Aggressivität, die Wut und all die Emotionen ungefiltert rauslassen.“ Die Veränderung kam freilich auch mit Ehefrau Park und den Umzug in die Djura-Kirche. Dort wohnen die beiden mit ihren zwei kleinen Töchtern in absoluter Abgeschiedenheit, haben sich aber auch ihren Kreativplatz und das Studio eingerichtet.

„Norwegian Gothic“ ist das bereits zehnte Album der Band, die über die skandinavischen Landesgrenzen hinaus noch immer viel zu wenig bekannt ist. Hierzulande sah man Nernes und Park mehrmals in der Wiener Arena oder 2019 beim renommierten Donaufestival in Krems. Årabrot klingen auf dem neuen Album erstmals nach einem richtigen Duo, einer Einheit. Was sich auf den letzten Werken bereits langsam ankündigte, wird nun breitflächig auf nicht weniger als 16 Songs ausgeführt. Stilisiertes Schubladendenken ist endgültig verworfen, alles ist erlaubt und erwünscht. Eine Rückschau „auf die letzten zehn Jahre“ sollte das Album laut Nernes werden. So tummeln sich flotte Post-Punk-Hymnen wie „Carnival Of Love“ und „The Rule Of Silence“ neben Faith-No-More-Ansätzen („The Lie“), geisterhaftem Saxofon-Jazz („The Moon Is Dead“), partiell eingebauten Interludes und den nicht enden wollenden 90er-Referenzen - freilich aus der coolen Ecke!

Strikte Trennung
„Ich war als Teenager immer bei den Leuten, die Nirvana, TAD, Helmet und Mudhoney hörten. Die anderen waren bei Pearl Jam oder Alice In Chains, aber das war mir zu poppig und langweilig.“ Dass die anerzogenen Hörgewohnheiten schlichtweg ein Abziehbild des Geburtsjahrgangs sind, ist Nernes vollkommen bewusst. „Ein paar Jahre früher und ich hätte wahrscheinlich nur Mötley Crüe und Guns N‘ Roses gehört.“ Die Liebe zu Nirvana war in den Frühtagen Nernes‘ so groß, dass er die 50 Lieblingsbands von Kurt Cobain förmlich inhalierte. „Ich arbeitete mich wirklich akribisch durch diese New Wave-, Grunge-, Punk- und Rockklassiker. Auch Slayer habe ich auf diesem Weg entdeckt. So lernte ich selbst Gitarrespielen und hatte die Vision von meiner eigenen Band.“ Der Sound Årabrots hat sich mittlerweile geformt. Nicht zuletzt Parks popkulturelle Ausbildung und Frühkarriere lässt „Norwegian Gothic“ zugänglich erscheinen. Vom radiotauglichen, kommerziellen Gesamtvergnügen sind die zwei Vollblutkünstler noch immer weit entfernt, aber Årabrot anno 2021 (obwohl das Album vor der Pandemie fertig war) klingt runder und in sich geschlossener.

In seiner gesamten Erscheinung ist dieses Zweigestirn ungewöhnlich, besonders und spannend. So wie auch das markante Foto, das das Artwork des Albums ziert. Es wurde in der heimischen Kirche aufgenommen, um 3 Uhr morgens während der Sommersonnenwende. Bei Årabrot wird nichts dem Zufall überlassen. So habe Nernes sowieso einen 20-Jahres-Bandplan, wie Karin Park in einem Interview augenzwinkernd zum Besten gab. Aber was soll zwei füreinander bestimmte Menschen schon aufhalten, die tödliche Krankheiten überstanden haben und sich in der frei gewählten spirituellen Einsamkeit schon lange vor der Pandemie von der Gesellschaft abgekoppelt haben? „Wir bekommen immer mehr Aufmerksamkeit und konnten in den letzten Jahren in Regionen vorstoßen, die uns lange verwehrt blieben“, resümiert Nernes, „ich habe einen anderen Zugang zu den Dingen als früher. Leute, die dem Tod von der Schippe gesprungen sind, scheinen sich immens zu verändern. Irgendwo ist das ein Klischee, irgendwo aber auch nicht. Hinter jedem Klischee steckt auch Wahrheit.“

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