"Ist eine Fiktion"

“Claustria”: Roman über den Fall F. nun auf Deutsch

Österreich
13.09.2012 09:39
"Claustria", ein Roman des französischen Autors Regis Jauffret, wurde bereits zum letzten Jahreswechsel in seiner Heimat intensiv diskutiert. Ab sofort ist das Buch auf Deutsch erhältlich und wird wohl auch hierzulande für Aufregung sorgen, denn Jauffret hat sich des Falls Josef F. angenommen und dafür ausführlich am Ort des Geschehens recherchiert. Herausgekommen ist aber ein Roman, kein Sachbuch.

Der wichtigste Satz des Buches steht ganz am Anfang: "Dieses Buch ist eine Fiktion." Das sollte man bei der Lektüre von "Claustria" nie vergessen. Das über 500-seitige Werk des 57-jährigen Autors, das bereits im Jänner in Frankreich erschienen ist, wird als Roman ausgewiesen. Es ist kein Sachbuch über den 2008 bekannt gewordenen Amstettener Inzestfall, bei dem Josef F. mit seiner Tochter, die er 24 Jahre lang in einem Keller gefangen gehalten und regelmäßig vergewaltigt hat, sieben Kinder zeugte.

Jauffret, der sich schon in seinen Romanen "Histoire d'amour" und "Clemence Picot" mit Gewaltverbrechen auseinandersetzte, hat intensiv in Niederösterreich recherchiert und auch den aufsehenerregenden Prozess mitverfolgt, bei dem der Täter zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde. Doch ausgehend von den Fakten lässt er seine Fantasie spielen. Und nimmt einen langen Anlauf, mit den Mitteln der Literatur die angetroffene Wand des Verschweigens, Verdrängens und Wegschauens einzurennen.

Die Hauptfigur heißt Josef Fritzl, der Keller liegt in Amstetten
Der Titel "Claustria" ist eine Verschmelzung der Worte "Klaustrophobie" und "Austria". Die im Buch geschilderten Figuren und Vorfälle stünden "weder für das wirkliche Geschehen noch sollen sie ein Urteil über die Fakten, Menschen und Orte in diesem Buch darstellen", sichert sich Jauffret ab. Doch er nennt die Dinge, die er meint, beim Namen. Seine Hauptfigur heißt Josef Fritzl, und der Keller, in dem er mit seiner Tochter eine vielköpfige Schatten-Familie gründete, liegt in Amstetten. Auch wenn sich der Autor nicht scheut, immer wieder in der Ich-Form zu schreiben und seinen österreichischen Gesprächspartnern als "Monsieur Jauffret" vorgestellt wird: Der Ausgangspunkt ist reinste Erfindung. Er liegt nämlich in der Zukunft.

Wir schreiben das Jahr 2055 und Sohn Roman Fritzl (die Vornamen des "Kellervölkchens" hat Jauffret geändert) ist der letzte Überlebende der Familie. Der Vater, im Alter von 92 Jahren unauffällig aus der Haft entlassen, ist mittlerweile ebenso tot wie die Mutter, die mit ihren Memoiren ("Der Stoff wurde mehrfach verfilmt, einige Filme wurden mit einem Oscar prämiert") ein Millionenvermögen machte. Das Haus, zwischenzeitlich eine morbide Touristenattraktion, wurde gesprengt. Nur der dabei nicht zerstörte Keller "wird bis zu dem fernen Tag, da ein Erdstoß ihn seinerseits zum Verschwinden bringen wird, wie eine albtraumhafte Tasche in der österreichischen Erde verbleiben".

"In Österreich geht es keinem um die Wahrheit"
Jauffret vergleicht den Kriminalfall mit Platons Höhlengleichnis, bei dem Gefangene die Wirklichkeit nur als Schatten an den Wänden wahrnehmen, und er findet gelegentlich zu Worten, die nicht nach Kolportage klingen: "In diesen 24 Jahren, in dieser Ewigkeit kann eine ganze Zivilisation untergehen." Sensible Wortwahl ist sonst nicht sein Fall, wenn es gilt, das Terrain abzustecken. "In Österreich geht es keinem um die Wahrheit", heißt es etwa. Amstetten ist "ein graues Kaff in Niederösterreich", Wien "eine Stadt wie eine Opernkulisse": "Ich zweifelte nicht daran, an irgendeiner Straßenecke Hitler zu begegnen."

Doch nicht Hitler ist die Hauptfigur von "Claustria", sondern ein unscheinbarer, narzisstischer, Sexualität nur als Gewaltausübung erlebender kleinbürgerlicher Familien-Diktator. Ihn zeichnet Jauffret besonders widerlich und macht sich auch Gedanken über seine Kindheit und Jugend, inklusive einer krankhaften Beziehung zur begehrten Mutter, die noch vor der Tochter am Dachboden sein erstes Wegsperr-Opfer wird. Reue kennt er auch später nie, im Gegenteil fühlt er sich von seiner Tochter Angelika hintergangen. "Sie liebt mich nicht", konstatiert er bei der einzigen kurzen Wiederbegegnung nach seiner Entlassung. Er sagt auch: "Ich mag Kinder und Beton."

"Es ist auszuschließen, dass niemand etwas bemerkt hat"
Beinahe ebenso widerlich wie Fritzl wird sein Anwalt Gretel beschrieben, ein eitler, mediengeiler Mann, der seine TV-Interviews sorgsamer vorbereitet als seine Plädoyers und zu seinem Mandanten eine kumpelhafte frauenfeindliche Atmosphäre des Einvernehmens herstellt, um seinen publicityträchtigen Auftrag nicht zu verlieren. Aber auch die durch permanente Gewalt gefügig gemachte und unterwürfige Ehefrau Anneliese, die Mieter und Nachbarn kommen schlecht weg. Es sei auszuschließen, dass in all den Jahren niemand etwas bemerkt hätte, heißt es immer wieder. Szenen, in denen die Entdeckung kurz bevorsteht, aber doch unterbleibt, werden ins grotesk Komische übersteigert.

Auch Gutachter werden zitiert, die dem recherchierenden Autor und seiner Übersetzerin Nina erzählen, was man beim Prozess partout nicht hören wollte: Der Keller sei überhaupt nicht schallisoliert und auch so gelegen gewesen, dass man Geräusche von dort im Wohnhaus wahrnehmen hätte müssen. Beamte geben unter der Hand zu verstehen, dass es einschlägige Berichte und Anzeigen sehr wohl gegeben, man sie aber nie untersucht habe - ebenso wie die Verbindung Fritzls zu einem früheren Sexualmord, für den er als Täter infrage gekommen sei.

Stellenweise nicht Aufklärung, sondern Übergriff
Literarisch ist das Buch schwach. Am Versuch, dem Unsagbaren eine Sprache zu geben, scheitert Jauffret. Der Erzählton ist zu häufig spekulativ und reißerisch, es werden intimste Details penibel gschildert. Statt literarisch Distanz zu gewinnen, drängt sich "Claustria" in das Seelenleben von Menschen, die Furchtbares erlitten haben. Stellenweise empfindet man das Buch nicht als Aufklärung, sondern als Übergriff. Solche Sätze möchte man nicht lesen, dazu sind die Ereignisse selbst entsetzlich genug.

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