Sträflinge rekrutiert

Jeder vierte Wagner-Häftling starb an der Front

Ausland
05.12.2023 22:35

Im Oktober 2022 ließen sich rund 200 Insassen einer Strafkolonie in der russischen Stadt Tscheljabinsk vom damaligen Wagner-Söldnerchef Jewgeni Prigoschin freiwillig für den Ukraine-Krieg rekrutieren. Jeder dritte saß eine Haftstrafe wegen Mordes ab. Jeder vierte überlebte den Einsatz an der Front nicht. Der Großteil von ihnen kehrte nach der Begnadigung nach Hause zurück, einige von ihnen wurden erneut straffällig. Aber es gibt auch eine andere Seite. Manche brüsten sich, wie stolz ihre Nächsten auf sie seien und sind dankbar, von Kreml-Chef Wladimir Putin eine „zweite Chance“ bekommen zu haben.

Die Justizvollzugsanstalt Nr. 6 ragt als düsterer, untermauerter Komplex aus Kasernen und Werkstätten am Stadtrand von Kopejsk hervor, schildern Journalisten der US-Zeitung „New York Times“. Hier werden Personen untergebracht, die schwere Straftaten begangen haben, wie Mord, Raub und Drogenhandel. Im Oktober 2022 soll der berüchtigte Jewgeni Prigoschin dort vorbeigeschaut haben.

Geld und Begnadigung versprochen
Er versprach den Inhaftierten demnach ein großzügiges Gehalt und eine Begnadigung nach einem sechsmonatigen Einsatz im Krieg. Aus der Kolonie, die für etwa 1500 Gefangene ausgelegt war, ließen sich den Angaben zufolge mindestens 197 Männer freiwillig rekrutieren. Journalisten der „New York Times“ gingen dem auf den Grund und sprachen mit Gefangenen und ihren Angehörigen.

Diese Aufnahme zeigt Prigoschin bei der Anwerbung von Söldnern im Gefängnis. (Bild: twitter.com (Screenshot))
Diese Aufnahme zeigt Prigoschin bei der Anwerbung von Söldnern im Gefängnis.

Der durchschnittliche Häftling, der von der Wagner-Truppe angeworben wurde, ist demnach 33 Jahre alt und stammt aus einer kleinen Stadt oder einem kleinen Dorf. Er wurde wegen Drogenhandels verurteilt und muss noch fünf Jahre absitzen, heißt es. Jeder dritte der Rekrutierten sei ein Mörder. Als häufigste Gründe, warum sie sich für den Einsatz meldeten, wurden Patriotismus, der Wunsch, endlich der Kolonie zu entfliehen und Tatendrang nach langjähriger Haft angeführt.

Widrige Bedingungen im Gefängnis
Der 35-jährige Alexander Mokin sei bereits seit elf Jahren wegen Drogendeals im Gefängnis gewesen. In Nachrichten an einen Freund beschwerte er sich, dass ihn die Wärter misshandelten und wegen jedem noch so kleinen Verstoß sofort in die Strafzelle schicken würden. Nicht einmal das Notwendigste konnte er sich im Gefängnis-Shop kaufen. Er wollte daher unbedingt in den Krieg ziehen, auch wenn er sehr wahrscheinlich nie mehr zurückkehren würde, schrieb er sich demnach von der Seele. Mokin schloss sich infolge Prigoschins Truppen an und starb nach zwei Monaten im Krieg.

Der mittlerweile verstorbene Söldner-Chef Jewgeni Prigoschin (Bild: PRIGOZHIN PRESS SERVICE)
Der mittlerweile verstorbene Söldner-Chef Jewgeni Prigoschin

„Müde“ von der Kolonie
Ein anderer Sträfling, der wegen der Ermordung von zwei Menschen eine 20-jährige Freiheitsstrafe auferlegt bekam, soll ebenfalls das Angebot des damaligen Wagner-Chefs freiwillig angenommen haben. Er sei „müde“ von der Kolonie gewesen: „Ich hatte es satt, im Gefängnis zu sein, mir wurde bewusst, dass ich dort nicht hingehörte“, berichtete er. Nach seiner Begnadigung kehrte er nach Hause zurück. Heute arbeitet er angeblich als Schweißer und studiert Management.

Kriegseinsatz für besseren Ruf
Es gab laut der NYT auch Häftlinge, die nur mehr wenige Monate abzubüßen hatten und trotzdem in den Krieg zogen. Der Bauarbeiter Nikolaj soll angegeben haben, dass seiner Familie die Entschädigungszahlungen sehr helfen würden, die im Falle seines Todes auszuzahlen seien. Für ihn wäre es eine Art Rehabilitation, für sein Heimatland zu sterben. „Ich möchte in den Augen der Kinder, die in unserem Dorf leben, kein schlechter Mensch bleiben“, betonte Nikolaj demnach.

Einsatz als „Kanonenfutter“
Die Häftlinge wurden meist als „Kanonenfutter“ eingesetzt, wie viele Militärexperten und Augenzeugen berichten. Durch die Rekrutierung von Häftlingen konnte Putin eine zweite Mobilisierungswelle abwenden. Gleichzeitig wurde auf Kosten der überwiegend aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Sträflinge der „Schein der Normalität“ für die wohlhabenden Großstadtbewohner aufrechterhalten.

Jeder vierte rekrutierte Häftling starb laut den Angaben an der Front. Der Großteil jener, die den Einsatz überlebte, habe schwere Verletzungen davongetragen.

Als im April 2023 der auf sechs Monate befristete Vertrag auslief, kehrten etwa 140 Ex-Häftlinge aus dem Krieg nach Tscheljabinsk zurück. Viele von ihnen schilderten der „New York Times“, dass sie „nach Jahren der Schande“ nun Respekt erlangt hätten.

(Bild: AP Photo/Darko Vojinovic)

Viele schätzen „zweite Chance“
Der Ex-Häftling Sergej erzählte dem Blatt, dass er in einer neuen Uniform und sechs im Krieg verliehenen Medaillen nach Hause zurückgekehrt sei. Seine Eltern hätten nun eine gänzlich andere Meinung von ihm, da im fortan jeder im Dorf mit Respekt begegne, zeigte er sich sichtlich stolz. Der begnadigte Witali führt an, dass er sich jetzt wieder mit seiner Tochter versöhnt habe. Sie habe allen in der Schule erzählt: „Papa ist im Krieg, Papa ist im Krieg.“

Viele der begnadigten Häftlinge seien Putin sehr dankbar. Der Tod Tausender Zivilisten in der Ukraine kümmere sie nicht. „Er hat uns eine zweite Chance gegeben“, loben sie den Präsidenten.

Einige Häftlinge wurden nach ihrer Begnadigung erneut straffällig. In Tscheljabinsk wurden laut den Daten der NYT neun Personen wegen Trunkenheit am Steuer, Betrugs oder Drogendelikten angezeigt.

Alltag ohne Pillen und Alkohol nicht denkbar
Andere versuchten hingegen, ihre Traumata zu überwinden und zu lernen, mit ihren Verletzungen zu leben. Jewgeni sei verwundet nach Hause zurückgekehrt. Sein Alltag sieht demnach so aus: „Ich stehe auf und nehme meine Tabletten. Dann lege ich meine Prothese und meinen Kompressionsverband an. Dann frühstücke ich und nehme noch mehr Tabletten. Und dann sind schon wieder zwei Stunden vergangen.“ Sergej sei mit Orden von der Front zurückgekehrt - allerdings könne er nicht schlafen, zu schlimm sei das Erlebte. Um zu vergessen, trinkt er. „Da hilft nur mehr Alkohol“, meint er verzweifelt.

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