Das große Interview

Kurt Seinitz: „Die Welt ist aus den Fugen geraten“

Persönlich
12.06.2022 06:00

Von Putin bis Dalai Lama, von Gadafi bis Lech Walesa: Kurt Seinitz (75) hat sie alle getroffen. Im Interview spricht der Journalist, der den „Krone“-Lesern seit 50 Jahren die Welt erklärt, über den brandgefährlichen Ukraine-Krieg, eine Dienstreise im brennenden Flugzeug, die Traumdestination Weltall und sein neues Buch „Was für ein Jahrhundert“.

Eine Dachgeschoßwohnung mit Blick auf Stephansplatz, Karlskirche und Ringturm bis hinüber zum Kahlenberg: Kurt Seinitz trägt auch zu Hause Hemd und Sakko, Freizeit ist eher ein Fremdwort für ihn. In den letzten 50 Jahren hat er die Mächtigsten der Welt getroffen. Nun ist diese Welt ins Wanken geraten und hier oben, über den Dächern von Wien, hat Seinitz ein Buch darüber geschrieben. An den Wänden hängen neben Drucken von Egon Schiele chinesische Stickbilder, eine Batik aus Rhodesien, ein Gemälde mit Lamas aus den südamerikanischen Anden, Thangkas aus Tibet. Die Uhr stammt aus einem sowjetischen U-Boot, „ich habe sie auf dem Schwarzmarkt erstanden“. Über dem Esstisch schwebt ein kubanischer Kugelfisch, dahinter hängen Stadtpläne von New York City und Kairo. Zehn Mal um die Welt ist der „Krone“-Außenpolitikchef für seine Lokalaugenscheine schon geflogen, manchmal auch in der Concorde. Stolz zeigt mir mein Kollege, wir sind seit 20 Jahren per Du, seinen Gürtel. Es ist ein Geschenk von AUA und Lufthansa an den Vielflieger. Klack, klack. Die Schnalle stammt von einem Sicherheitsgurt.

„Krone“: Kurt, könnte es sein, dass du ein Souvenirjäger bist?
Kurt Seinitz: Le souvenir bedeutet Erinnerung. Ich sammle wertvolle Dinge, die etwas über das Land, die Menschen und ihre Kultur aussagen. Und die mich an Begegnungen erinnern. So nehme ich ein Stück der großen, weiten Welt mit nach Hause. Also wenn man so will, ja.

Die Hälfte des Jahres bist du unterwegs. Ist in Wahrheit die Welt dein Zuhause?
Ja, das ist ein schönes Bild. Auf Reisen fühle ich mich wohl. Denn der schlechteste Arbeitsplatz für einen Außenpolitiker ist der Schreibtisch. Ich bin allein mit AUA und Lufthansa zehn Mal um die Erde geflogen. Wien ist meine Basis, mein Ankerplatz. Ich kehre immer gern zurück, aber letztlich, um bald wieder abzuheben.

Nun hast du ein Buch geschrieben. Was hat dich dazu veranlasst?
Es gab zwei Momente, in denen ich mir dachte: was für ein Jahrhundert! Das wurde dann der Titel meines Buches. Einmal die Corona-Demonstrationen, auf denen der Impfstoff als „Globalisierungsdreck“ bezeichnet wurde. Ich dachte: Was hat die Entwicklung eines Impfstoffs in Rekordzeit mit Globalisierung zu tun? Was geht in den Köpfen dieser Menschen vor? Der zweite Moment war der russische Einmarsch in der Ukraine. Ich dachte mir: Was geht in Putin vor? Das war dann der Anstoß, mit dem Schreiben zu beginnen. Insofern ist Putin der Vater meines Buchs.

Wie lange hast du geschrieben?
17 Tage und Nächte in einem durch. Wenn ich müde war und mir nichts mehr eingefallen ist, habe ich mich hingelegt. Wenn nach zwei Stunden wieder eine Idee kam, bin ich aufgesprungen und habe weitergemacht. So ist es dahingegangen.

Der Untertitel verspricht einen „Leitfaden durch die Welt im Chaos“.
Ich bin der Frage nachgegangen, warum passiert, was jetzt passiert. Wenn ich mich schon anstrengen muss, um das zu ergründen, wie muss es erst ganz normalen „Opfern“ des Tagesgeschehens gehen ... Seit 9/11, als zwei Flieger in die Zwillingstürme des World Trade Center krachten, ist die Welt sukzessive aus den Fugen geraten und nicht mehr zur Ruhe gekommen. Das ist nun 20 Jahre her. Wir haben erst ein Fünftel dieses Jahrhunderts hinter uns, und ich fürchte, es steht uns noch einiges bevor.

Pandemie, Klimakrise, Krieg: Kann es überhaupt noch schlimmer werden?
Ich bin ein optimistischer Pessimist. Optimistisch, weil die Welt nicht untergehen wird. Pessimistisch, weil wir aus der Geschichte nicht lernen. Jetzt spricht der Historiker in mir, ich habe Wirtschafts- und Sozialgeschichte studiert, bin aber wie Sebastian Kurz Studienabbrecher. Wir befinden uns mitten in einer Zeitenwende. Und Zeitenwenden hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Die Entdeckung von Amerika war die erste Globalisierung, auch damals ist die Welt aus den Fugen geraten und hat erst nach 150 Jahren, durch den Westfälischen Frieden, zu einer neuen Ordnung gefunden. In diese Zeit fällt der schreckliche 30-jährige Krieg. Die Menschen haben damals geglaubt, die Welt stürzt ein. So eine ähnliche Situation haben wir jetzt wieder.

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Seit 9/11, als zwei Flieger in die Zwillingstürme des World Trade Center krachten, ist die Welt sukzessive aus den Fugen geraten und nicht mehr zur Ruhe gekommen.

Kurt Seinitz

Was könnten wir daraus lernen?
In der Geschichte geht es immer darum, die richtigen Antworten zu finden. Keine Antworten können auch falsche Antworten sein. Nicht zu handeln, schützt nicht vor bösen Überraschungen. Das sieht man jetzt beim Verhältnis von Wladimir Putin zur Ukraine. Hätte man das voraussehen können? Ja. Man muss sich nur die russische Geschichte anschauen. Ohne mich jetzt rühmen zu wollen, ich war niemals ein Putinversteher. Ich habe immer gewusst: Er will so sein wie die Zaren. Er hat die nötige Brutalität dazu und er ist nicht sehr intelligent. Er bringt also alles mit, was ein Machthaber braucht.

Aber hätte Europa verhindern können, dass er einen Angriffskrieg auf die Ukraine startet?
Europa hätte alle Sanktionen, die es jetzt verhängt hat, schon 2014 verhängen können, als Putin die Krim kassiert hat. Aber er hat es damals sehr durchtrieben angelegt. Mit Soldaten, die nicht wie Soldaten ausgesehen haben. Die ukrainische Armee war desorientiert. Putin hat sich nachher gerühmt, dass er die Krim ohne einen Schuss kassiert hat. Deshalb hat der Westen sehr schläfrig reagiert. Daraus hat Putin, wie man jetzt sieht, falsche Schlüsse gezogen.

Dachte er wirklich, dass das durchgeht?
Ich glaube, der Trigger für seinen Entschluss war Trump, die Selbstzerstörung der USA, die Flucht aus Kabul. Der aus Putins Sicht „degenerierte Westen“. Nun ist Putin in einer Zwangslage. Er muss den Krieg am Köcheln halten, denn wenn die Russen mit nichts als Särgen nach Hause kämen, dann stünde es nicht gut um ihn. Aber so lange es köchelt, so lange läuft es für Putin.

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Er will so sein wie die Zaren. Er hat die nötige Brutalität dazu und er ist nicht sehr intelligent. Er bringt also alles mit, was ein Machthaber braucht.

Über Wladimir Putin

Hatte Sebastian Kurz recht, als er im Zusammenhang mit diesem Krieg meinte, jeder Krieg ende irgendwann mit Verhandlungen?
Nein, da hat er nicht recht gehabt. Aber er ist nicht der Einzige, der das gesagt hat. Die meisten Kriege gehen tatsächlich mit Verhandlungen zu Ende, aber bei Erstem und Zweitem Weltkrieg zum Beispiel war die Bedingung der Alliierten bedingungslose Kapitulation.

Was waren die schlimmsten Kriege, die du in den 50 Jahren deiner Tätigkeit erlebt hast?
Das waren drei. Der Vietnamkrieg, ich bin mit dem vorletzten Flieger aus Saigon rausgeflogen. Der Oktoberkrieg, da habe ich unter der rot-weiß-roten Flagge, der ägyptischen Kriegsflagge, den Suez-Kanal überquert. Und der Jugoslawien-Zerfallskrieg, Bosnien.

Vom Dalai Lama bis zum libyischen Revolutionsführer Gadafi hast du alle Mächtigen dieser Welt getroffen. Wer hat dich am meisten beeindruckt?
Beeindrucken kann mich in der Politik wenig. Vielleicht Jelzin, das war wirklich ein Mensch. Während Gorbatschow eine Funktionärsmaschine war und Putin ein brutaler Machthaber. Es gibt zwei Arten von Weltveränderern. Sehr oft können Weltveränderer zerstören, aber nicht aufbauen. Lech Wałęsa hat ein System zerstört, er konnte es nicht aufbauen. Jelzin hat ein System zerstört, aber er konnte es nicht aufbauen. Er wirkte bei unserer Begegnung darüber verzweifelt. Seine Augen sagten: „Ich schaffe es nicht.“ Und so bin ich ihm mit Bedauern gegenübergesessen. Bei Saddam Hussein habe ich die Banalität des Bösen kennengelernt. Er war so banal und kindlich, und gleichzeitig ein Monster.

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Ich bin mit dem vorletzten Flieger aus Saigon rausgeflogen.

Kurt Seinitz hat einige Kriege miterlebt.

Wie viele amerikanische Präsidenten getroffen?
Seit Ronald Reagan jeden.

Aber nur ein außergewöhnlicher Interviewpartner hat einen Kuss bekommen, richtig?
Nur der Dalai Lama. Als wir uns verabschiedet haben, merkte ich, dass ich ihn beeindruckt haben musste. Er nahm mich an seine Brust und flüsterte: „We need friends like you.“ Ich konnte von oben seine Glatze sehen und habe ihm aus Verlegenheit einen Schmatzer auf den Kopf gedrückt.

Haben die sozialen Medien den Journalismus einfacher gemacht?
Man kann sich jetzt auf YouTube anschauen, was in Peking oder Washington gerade läuft. Aber man muss hinfahren, um es zu riechen. Durch die sozialen Medien kann jeder praktisch alles erleben. Aber das Problem ist der Tunnelblick. Die Kamera zeigt dir nur einen ganz bestimmten Teil, sie schaut nicht nach rechts und nach links. Das kann man nur, wenn man selber dort ist.

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Ich konnte von oben seine Glatze sehen und habe ihm aus Verlegenheit einen Schmatzer auf den Kopf gedrückt.

Über den Dalai Lama

50 Jahre bei derselben Zeitung ist eine lange Zeit. Wie gehst du eigentlich mit Kritik unserer Leser um?
Sie schreiben dauernd. Wenn es vernünftig klingt, schreibe ich auch zurück. Wenn es nur Kritik ist, tropft es an mir ab. Ich bin ein Mensch, der sehr lange überlegt, bevor er einen Schritt setzt oder ein Wort hinschreibt. Aber wenn ich mir einmal meine Meinung gebildet habe, dann fährt der Panzer drüber. Hut ab vor Hans Dichand und auch jetzt vor seinem Sohn: Ich konnte immer schreiben, was ich wollte. Ich konnte auch immer überall hinreisen. Nur einmal, bei einem Flug mit der Concorde von London nach New York zur UNO-Vollversammlung, hat der Senior kurz die Stirn gerunzelt. Das waren damals 74.000 Schilling.

Wie bist du aufgewachsen?
Mehr oder weniger auf der Straße, im russischen Sektor der Stadt, Wien-Leopoldstadt. Mein Vater war Schuhmacher, meine Mutter Hilfsarbeiterin. Wir wohnten im letzten Stock eines bombengeschädigten Hauses, dort bauten meine Eltern eine sogenannte Paragraph 7 „Wohnung mit Wasser am Gang“ selber aus. Ich musste helfen, den Lebensunterhalt mitzufinanzieren. Unter anderem als Badewaschl im Gänsehäufel und als Nachtwächter in Ringturm. Bis heute bin ich nachkriegsgeschädigt, indem ich jeden Teller leeressen muss.

Wann bist du das erste Mal mit der Weltpolitik in Berührung gekommen?
In der Schule hat mich eigentlich gar nicht interessiert, ich saß immer in der letzten Reihe und aß Wurstsemmel oder Gabelbissen. Ich habe immer geschaut, dass ich mit einem „Genügend“ durchkomme. Wirklich interessiert haben mich fremde Länder. Meine erste Erinnerung an Weltpolitik ist die Beschießung der Taiwan-Insel Quemoy durch die rotchinesischen Truppen. Ab 1958 war ich Dauergast im OP-Kino. Das „Ohne Pause“-Kino spielte von früh bis später lauter Wochenschauen.

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Ich bin 1975 in einem Flugzeug über Zypern gesessen. Als ich rausgeschaut habe, sah ich das brennende Triebwerk ...

Über Leben und Tod

Der erste Flug?
In der 7. Klasse habe ich und ein Schulkamerad, beide berüchtigt, vor den Sommerferien früher Schluss gemacht und sind mit der Ökista nach London geflogen. Der Klassenvorstand war froh, dass wir nicht mehr gekommen sind. Dort haben wir die Rolling Stones gesehen. Mick Jagger war damals 21, ich 17.

Und wie bist du Journalist geworden?
Ich ging damals oft auf den Fleischmarkt, wo die Kronen Zeitung das Büro hatte. Unten waren die Zeitungen des Tages ausgestellt. Mein Vorgänger Ernst Trost, den ich sehr verehre, war damals Berichterstatter in Berlin, wo die Mauer gebaut wurde. Da kam mir der Gedanke: „Das möchte ich auch machen.“ Mein erster Artikel beim „Express“ handelt von der Gerichtsverhandlung gegen meinen ehemaligen Schuldirektor, das hat mir besonderen Genuss bereitet.

Wie viele Länder hast du insgesamt bereist?
Ich glaube, ich war in 110 von 194. Also es gibt noch sehr viele Inseln, die ich nicht kenne. Und vermutlich geht es sich in diesem Leben nicht mehr aus, alle zu sehen. Obwohl ich mindestens 100 werden will.

Wo willst du noch unbedingt hin?
Meine Traumdestination ist das Weltall.

Warum das Weltall?
Warum steigen Menschen auf Berge? Ich möchte die Welt von oben sehen. Aber es kostet zwei Millionen Euro, und das kann ich mir nicht leisten.

Wann ist Schluss?
Mit dem Schreiben niemals. Mir macht es Spaß, meinen Senf dazuzugeben. Und ich freue mich, wenn mir Leute sagen, dass sie jetzt etwas verstanden haben, was sie sich vorher nicht erklären konnten. Alle Entwicklungen und Konflikte haben letztlich historische Wurzeln. Wenn man sie erkennt, hilft es, festen Boden unter den Füßen zu gewinnen.

Hans Dichands Wunsch war es, am Schreibtisch zu sterben. Wie ist es bei dir?
Am liebsten würde ich überhaupt nicht sterben. Ich bin ein Anhänger des ewigen Lebens, vielleicht weil ich krankhaft neugierig bin.

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Meine Traumdestination ist das Weltall. Ich möchte die Welt von oben sehen. Aber es kostet zwei Millionen Euro, das kann ich mir nicht leisten.

Über neue Ziele

Und wenn es doch sein muss?
Dann patsch, weg! Ich bin 1975 in einem Flugzeug über Zypern gesessen. Als ich rausgeschaut habe, sah ich das brennende Triebwerk und dachte: Aha, das war’s jetzt also. Die Stewardessen sind alle halb ohnmächtig geworden, für mich war es okay. So stelle ich mir das ungefähr vor. Ich habe keine Angst. Wir sind dann übrigens mit brennendem Triebwerk sicher gelandet.

Was möchtest du im nächsten Leben sein?
Als Kind wollte ich Düsenjägerpilot werden. Später nur noch Journalist. Das möchte ich auch im nächsten Leben sein. Ich bin mir aber nicht sicher, ob es ein solches gibt.

DER VIELFLIEGER
Geboren am 7. Jänner 1947 in Wien, der Vater war Schuhmacher, die Mutter Hilfsarbeiterin. Sein Berufswunsch damals: Düsenjägerpilot. Nach der Matura studiert er Publizistik, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, schließt das Studium aber nicht ab. 1967 beginnt er seine journalistische Karriere bei der Tageszeitung „Express“, 1971 kommt er zur „Krone“, ab 1974 leitete er das Ressort Außenpolitik. In den letzten 50 Jahren ist Seinitz zehn Mal um die Welt geflogen. 2016 wurde er mit dem Leopold-Kunschak-Pressepreis ausgezeichnet.

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