Anfang vom Ende?

Oberst erstaunt mit Kriegskritik im russischen TV

Ausland
18.05.2022 18:19

Im russischen Staatsfernsehen hat ein Militärexperte die Zuschauer einer Talkshow mit einer pessimistischen Bewertung des Ukraine-Kriegs überrascht. Die ukrainischen Streitkräfte seien weit von einem Zerfall entfernt und Russland in der Welt durch den Krieg isoliert, sagte Michail Chodarjonok in der am Montag ausgestrahlten Show. Der Auftritt wurde in sozialen Medien heiß diskutiert, viele bewunderten den „Mut“ des ehemaligen Obersts. Ein Experte sieht ihn hingegen als Teil einer „Scheindebatte“ in Russland. Vom Kreml wurde er offenbar einkalkuliert - aus gutem Grund.

Prinzipiell werde „alles, was im Staatsfernsehen ausgestrahlt wird, genau registriert, gerade in Kriegszeiten“, betont der Politikanalyst und Russland-Experte Alexander Dubowy gegenüber krone.at. So seien die Positionen Chodarjonoks, der als Hardliner, aber auch als Realist gilt, in Russland bekannt, sicher auch der Moderatorin der Politsendung, die ihr Missfallen daran offen zeigte. Schon Anfang Februar - drei Wochen vor Invasionsbeginn - veröffentlichte er einen Kommentar, in dem er erklärte, dass die russischen Streitkräfte nicht in der Lage seien, die Ukraine in kurzer Zeit zu besiegen.

Experte: Scheindebatte in der Öffentlichkeit
Bemerkenswert sei der Auftritt des Ex-Obersts in der Sendung dennoch, denn seit Kriegsbeginn sei er nicht mehr ins Studio eingeladen worden, erklärt Dubowy. „Grundsätzlich bestätigen die Äußerungen von Michail Chodarjonok eine seit Wochen erfolgende Scheinerweiterung des Meinungsspektrums im Staatsfernsehen“, sagt er. Das spiegle die Debatte wider, die innerhalb der russischen Elite geführt werden. Dort gebe es eine „Kriegspartei“, der etwa auch der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow angehört und die für ein noch brutaleres Vorgehen in der Ukraine eintritt, und eine „Friedenspartei“, die die Invasion befürwortet, aber eine diplomatische Lösung anstrebt.

Damit, dass beide Parteien in Diskussionen im Staatsfernsehen zu Wort kommen, „soll der Anschein unterschiedlicher Positionen erweckt werden, um damit verschiedene gesellschaftliche Interessensgruppen anzusprechen“, erläutert der Russland-Experte. In welchem Rahmen das geschehe, bestimme aber der Kreml. Sendungen im Staatsfernsehen gelten als dessen Sprachrohr. 

In der Sendung hatte der ehemalige russische Generalstabsoffizier einer Reihe von Behauptungen der russischen Staatspropaganda widersprochen, die er als „Info-Beruhigungstabletten“ kritisierte. Die Motivation der Ukrainer, für ihr Land zu kämpfen, sei durchaus hoch, sagte Chodarjonok - und positionierte sich damit klar gegen die im Staatsfernsehen oft wiederholte Behauptung, dass viele Ukrainer Russlands „militärische Spezial-Operation“ als vermeintliche „Befreiung“ ansähen.

„Braucht keinen Mut, sondern Erlaubnis“
„Es braucht keinen Mut, um etwas im russischen Fernsehen zu sagen, es braucht eine Erlaubnis“, kommentierte etwa der russische Dissident und Ex-Schachweltmeister Garry Kasparow auf Twitter den TV-Auftritt Chodarjonoks. Dass dieser seine Kritik offen äußern durfte, sei „Teil einer breit angelegten Kampagne des Kremls“, mit der die Erwartungen im eigenen Land gedämpft werden sollen. So könne dann auf Diplomatie und Waffenstillstände gesetzt werden, um Russlands verbleibende Gewinne zu retten, schrieb der scharfe Putin-Kritiker.

Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Russland-Experte Dubowy. Er warnt jedenfalls vor einer Überbewertung solcher Scheindebatten. Der Konflikt der Parteien sei keineswegs Zeichen für eine Palastrevolte: „Partei des Friedens“ und „Partei des Krieges“ rufen Putin als ihren Zeugen an, „versuchen dadurch den eigenen hart umkämpften innerelitären Platz abzusichern“, sagt Dubowy. So habe Putin die Möglichkeit, außerhalb des Diskurses zu bleiben, und könne diesen indirekt steuern.

Vorbereitung auf Exit-Strategie?
Aussagen Chodarjonoks, wonach Moskau einen Ausweg aus der Lage finden müsse, „dass die ganze Welt gegen uns ist“, seien gewissermaßen ein „Versuchsballon“ - eine von vielen in der Öffentlichkeit platzierten Forderungen. So erweitere Putin seine Optionen und könne sich auf eine Exit-Strategie - möglicherweise eine Verhandlungslösung - vorbereiten. Durch die Scheindebatte in der Öffentlichkeit vergrößere Putin seinen Entscheidungsspielraum.

Die im öffentlichen Raum platzierten Forderungen „nehmen ihm letztlich jede Notwendigkeit zur Rechtfertigung seiner Entscheidungen ab. Das letzte Wort bleibt selbstverständlich ausschließlich bei Putin“, so Dubowy. Dieser habe die Entscheidung zur Invasion alleine getroffen und entscheide letztlich auch jede Außenpolitik. Eines ist dem Experten zufolge ebenso klar: „Die Bürde der Verantwortung für die Folgen dieser Entscheidung werden andere übernehmen.“

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