Ein Jahr nach Anschlag

Keine Anteilnahme: „Totalversagen der Regierung“

Politik
05.11.2021 15:57

Etwa ein Jahr ist es her, dass ein junger Islamist in der Wiener Innenstadt vier Menschen ermordete und Dutzende zum Teil schwerst verletzte. Die Opfer und Hinterbliebenen sind schwer traumatisiert - und klagen an: Der Staat habe nicht sein Möglichstes getan, um den Anschlag zu verhindern, und habe seither kein Mitgefühl gezeigt. Was ein Jahr später feststeht, warum unser Geheimdienst von Grund auf erneuert werden muss und was die Lehren aus der Tragödie sind, das besprechen der Anwalt Karl Newole, der 24 Opfer und Hinterbliebene vertritt, und der Investigativjournalist Erich Vogl diese Woche mit Damita Pressl bei „Moment Mal“.

„Hinterbliebene und Verletzte bekamen zunächst 2000 bis 4000 Euro pro Person. Einem wurde der Finger weggeschossen. Bei einem anderen hat die Kugel eine Arterie zerfetzt. Eine Frau wurde am Fuß getroffen, sie kann ihn heute noch kaum benutzen. Das sind alles sehr tragische Fälle, und die bekommen ein paar Tausend Euro“, sagt Newole. Nach monatelangem juristischem und medialem Druck sowie Verhandlungen mit der Finanzprokuratur wird nun doch ein Entschädigungsfonds mit 2,2 Millionen Euro eingerichtet. Doch bei den Betroffenen entschuldigt oder Anteilnahme bekundet habe sich von offizieller Seite nach wie vor niemand. „Da kann ich mit gutem Gewissen sagen: Das war ein Totalversagen seitens der Regierung“, so Newole. Während in Frankreich Präsident Emmanuel Macron die Krankenbetten und Begräbnisse von Terror-Opfern besuche, „wurde der Österreicher in den Papierkrieg geschickt. Er bekommt statt Anteilnahme ein Formular - und das auch nur, wenn er es sich selbst abholt.“ Entsprechend alleingelassen fühlen sich Newoles Mandanten. An offiziellen Gedenkfeiern zum Jahrestag wollten viele nicht teilnehmen: „Fünf Hinterbliebene haben gesagt, sie gehen da bewusst nicht hin. Warum sollen sie nach einem Jahr Funkstille für eine ‚Fernseh-PR-Aktion‘ herhalten?“

Bundeskanzler Alexander Schallenberg am Dienstag bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Terroranschlags vor einem Jahr in der Wiener Innenstadt (Bild: APA/GEORG HOCHMUTH)
Bundeskanzler Alexander Schallenberg am Dienstag bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Terroranschlags vor einem Jahr in der Wiener Innenstadt

Verfehlungen „passen ins Bild des BVT“
Auch vor dem Anschlag wurden Fehler gemacht, teils gravierende. „Ein Schlüsselaspekt sind die beiden Beamten, gegen die jetzt auch ermittelt wird, wo der eine sinngemäß gefragt hat, ‚Sollten wir uns den nicht einmal ansehen?‘ Der andere meinte, nein, die Ressourcen würden fehlen“, weiß Erich Vogl. So konnte der bereits einmal inhaftierte und radikalisierte Attentäter seinen Anschlag ungestört planen. „Das passt ins Bild des BVT rein“, fährt Vogl fort - die Hausdurchsuchung, die mögliche Weitergabe von Informationen des BVT an Wirecard, dann der Anschlag: „Vielleicht wird es durch die Neuaufsetzung des Geheimdienstes jetzt besser, aber das hat großen Schaden an der Reputation der Republik angerichtet. Da haben auch ausländische Geheimdienste gesagt: ‚Mit den Österreichern braucht man nichts machen, die haben lauter Leaks.‘“

(Bild: Andi Schiel)

„Wohl verhinderbar“
Die Gründe sind vielfältig: einerseits Misstrauen zwischen Bundes- und Landesbehörden und dadurch fehlende Kommunikation, mangelnde Personalressourcen sowohl im Sicherheitsapparat als auch im Strafvollzug und bei der Deradikalisierung, aber wohl auch Fahrlässigkeit einzelner handelnder Personen. „Terrorismus an sich kann man nicht verhindern, das ist klar, aber diesen Anschlag an diesem Ort zu dieser Zeit mit diesen Opfern - der wäre wohl verhinderbar gewesen“, zieht Newole Bilanz. 

(Bild: P. Huber)

BVT-Reform dringend, Anti-Terror-Gesetz nur „Beruhigungspille“
Die Reform des Nachrichtendienstes ist also dringend überfällig, Vogl spricht von einem „Weckruf“: Es brauche regelmäßigen Informationsaustausch, eine andere Arbeitskultur, eine breitere Rekrutierungspraxis und Mitarbeiter auch aus dem akademischen Bereich sowie eine viel stärkere Einbindung der relevanten Communitys und Religionsgemeinschaften. Das gesetzliche Anti-Terror-Paket hingegen, das im Juli beschlossen wurde, war „aus juristischer Sicht eher unnötig“, sagt Newole: „Die Gesetzeslage ist dicht genug“, es habe sich um „eine Art Beruhigungspille für die Bevölkerung“ gehandelt. 

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