„Krone“-Interview

Tiger Lillies: „Wir treten allen auf den Schlips“

Musik
23.10.2021 10:00

Die Tiger Lillies sind so etwas wie der Stachel im Fleisch einer immer gleichgebügelteren Musikszene. Mit inhaltlicher als auch musikalischer Anarchie überzeugen Martyn Jacques, Adrian Stout und Co. seit mehr als drei Jahrzehnten und lassen keine gesellschaftliche Wunde unberührt - naja, fast. Vor ihrem Auftritt am Sonntag, 24. Oktober, im Wiener WUK, trafen wir sie vorab zum ausführlichen und natürlich politisch ganz und gar inkorrekten Gespräch.

(Bild: kmm)

Wie ein Krebsgeschwür breiten sich die Tiger Lillies seit mehr als 30 Jahren auf der Weltkarte aus, um ihre einzigartige Mischung aus britischem Folk, Dark Cabaret, Vaudeville-Optik, Kabarett der Weimarer Republik, Bertolt Brecht-Gestus, Gossenpunk, Gypsy-Chanson und dazu passender Falsettstimme zu präsentieren. Mit derbem britischem Humor bricht das Trio rund um Frontmann Martyn Jacques und seinem getreuen Kompagnon Adrian Stout die Themen des Alltags auf und versetzt sich gerne in die Perspektive anderer. Das können die Pestplage des 14. Jahrhunderts, ein pädophiler Vergewaltiger oder das Corona-Virus sein. Wichtig ist nur, dass es aneckt und provoziert und sich künstlerisch so umsetzen lässt, wie es die Band seit jeher für richtig hält: als metaphorisch-philosophisches Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Simpsons-Erfinder Matt Groening und Monty Python Terry Gilliam lieben die Tiger Lillies ebenso wie die kultigen Dresden Dolls und wer sich bei einer der zahlreichen österreichischen Shows schon einmal in den dunklen Sog des Trios ziehen hat lassen, den wird die Magie dieser Band nicht mehr loslassen. Mit Texten wie „I’m crucifying Jesus, banging in the nails“ oder „Cancer, it’s good for you“ geben die in Berlin und Athen wohnhaften Briten schonungslos und doch humorig den vermeintlich verpönten Themen eine breitere Fläche. Wer in den Kosmos der Tiger Lillies eintaucht, der bekommt zur Provokation aber auch eine gehörige Portion Geschichtsunterricht aufgetischt. Am Rande ihres Auftritts bei der Bühne im Hof in St. Pölten haben wir die honorigen Herren zum Gespräch gebeten und lernten, dass es nur ein Thema gibt, an dem sie lieber nicht anstreifen.

„Krone“:Martyn, Adrian - wo lebt ihr zurzeit eigentlich?
Adrian Stout:
In Athen und London, aber die meiste Zeit bin ich in Griechenland, weil dort meine Freundin lebt.
Martyn Jacques: Ich war während des Lockdowns viel in Berlin und sonst lebe ich in Athen oder auch in London.

Ihr habt unlängst ein paar Shows in Großbritannien gespielt.
Stout:
Wir haben eine Hommage an die Songs von Cole Porter gemacht.
Jacques: Unser neuer Drummer Chris Koutsogiannis ist auch aus Athen. Wir sind mittlerweile wohl eine griechische Band geworden. Adrian und ich habe eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung für Griechenland.
Stout: Das macht das Reisen quer durch Europa leichter, denn von Großbritannien aus ist es ja nicht immer so einfach. Wir spielen im Dezember noch in London und im Jänner eine Show in Prag. Viel mehr haben wir derzeit nicht geplant, wir warten lieber noch etwas ab. Es wird alles gleich wieder so schnell abgesagt, dass wir uns lieber noch Zeit lassen.

Ihr seid bekanntlich eine Band, die die Bühne und das Reisen liebt. Wie hart war es anfangs, mit der Pandemie klarzukommen und daheim eingesperrt zu sein?
Stout:
Wir haben viel gearbeitet. Songs geschrieben, aufgenommen, Alben gemacht und Online-Shows gespielt. Wir wollten lieber irgendwas machen als gar nichts. Es gab viele Hochs und Tiefs, wie wahrscheinlich bei jedem. An manchen Wochen habe ich die Entspannung sehr genossen, an anderen Tagen hatte ich suizidale Gedanken, weil ich nicht wusste, ob wir jemals wieder arbeiten und auftreten könnten. Wo kriegen wir das Geld rein und ist das Leben nun vorbei? Es waren viele Selbstzweifel dabei. Seit 30 Jahren sind wir auf Tour und plötzlich war alles vorbei. Wir sind halbwegs gut durch diese Phase gekommen, andere mussten mit der Musik aufhören und Jobs annehmen, die sie hassen.
Jacques: Die Online-Konzerte waren vor allem zu Beginn sehr wichtig für unsere Psyche und brachten uns auch Geld rein. Wir haben viele Kommentare gekriegt, direktes Feedback. Das war sehr interessant, weil es für uns neu war. Der magische Kontakt mit dem Publikum war aber weg und den haben wir vermisst. Ich fühlte mich wie ein Junkie, dem plötzlich seine Drogen weggenommen wurden. Jahrelang habe ich mich mit Menschen unterhalten, nach den Konzerten ihr Merchandise von uns signiert und den Applaus genossen. Vielleicht bin ich auch nur von meinem monströsen Ego getrieben, aber ich, das Baby, hatte plötzlich seinen Anschluss zur Milch verloren.

Hast du da erstmals richtig bemerkt, wie wichtig dir Zuspruch und Applaus sind?
Jacques:
Das kann man so sagen, ja. In den letzten Monaten waren wir öfter auf der Bühne und haben diese Shows regelrecht genossen. Auch wenn sich das Publikum teilweise halbiert hat, weil viele sich noch immer nicht wohlfühlen, mit vielen anderen in einem Saal zu sein. Nach gut einem Jahr ohne Kontakt war das wunderschön. Der Drogenabhängige hat wieder seinen Stoff bekommen. (lacht) Auch wir haben vieles für selbstverständlich genommen, was wir jetzt aber umso mehr genießen können.

Habt ihr euch während der Lockdowns selbst anders oder neu kennengelernt?
Stout:
Für mich war es einfach so, wie wenn ich nicht auf Tour bin. Da sitze ich nämlich auch nur den ganzen Tag herum und bin weit weg von anderen Menschen. (lacht) Ich habe das Reisen mehr vermisst als das Publikum. Andere Länder, Städte und Orte zu sehen. Ich war von der Welt da draußen entkoppelt und konnte nicht spielen. Normalerweise koche ich gerne, aber nach dem ersten Lockdown habe ich das Kochen gehasst. (lacht) Es war ein bisschen wie „Und täglich grüßt das Murmeltier“ - ich wachte jeden Tag im selben Bett auf. Das hat mich fast verrückt gemacht, weil ich es nicht gewohnt bin. Als wir raus durften, war Griechenland natürlich ein idealer Platz, um wieder ins Leben zurückzukehren. In England regnet es die ganze Zeit und in Griechenland kannst du locker bis Dezember gemütlich draußen sitzen.

Ihr seid bekanntlich nicht von den aktuellen Vorkommnissen auf Tour inspiriert, aber musstet ihr euch durch die erzwungene Livepause zur Kreativität zwingen?
Stout:
Wir hatten ja viel mehr Zeit, um herumzusitzen und Songs zu schreiben. Künstler üben die ganze Zeit. Es geht nicht um die Inspirationen, sondern darum, dass du übst und immer besser wirst.
Jacques: Da gibt es im Englischen den Vergleich zwischen „Inspiration“ und „Perspiration“ - also Inspiration und Schweiß. Und zweiteres ist wichtiger.
Stout: Man braucht zehn Prozent Inspiration und 90 Prozent Anstrengung, also Schweiß. Wenn du ein Maler bist, musst du malen. Wenn du Musiker bist, spielen - nur so wirst du besser. Wir bekamen einfach eine andere Perspektive auf die Dinge.
Jacques: Ich habe zwei Alben über die Pandemie geschrieben. Ich war gerade in Berlin und Adrian in Athen und alles fühlte sich so sonderbar an. Ich habe in den Straßen bewusst versucht, Kontakte mit Menschen zu vermeiden und wir haben dazu ein lustiges Video gedreht. Dann kam ich ins Aufnahmestudio, habe mein Make-Up aufgetragen und für die Videos performt. Alles war so seltsam. Die Online-Konzerte waren sonderbar, aber auch gut. Dass wir dann Songs über Covid-19 gesungen haben, hat die ganze Angelegenheit noch intensiver gestaltet.
Stout: Wir hatten schon ein Monat nach Beginn der Pandemie unser erstes Covid-Album und das zweite folgte gleich später. Es war mehr wie Journalismus als eine Dokumentation, wir haben das Thema fast live begleitet.

Diesen Mai habt ihr das Album „Requiem For A Virus“ veröffentlicht, das sich der Carmina Burana widmet.
Jacques:
Das war mehr eine distanzierte und philosophische Sichtweise auf das Leben im Allgemeinen.
Stout: Darauf haben wir die Lage anders beobachtet. Aus historischer Sicht auf eine gegenwärtige Plage. Wir haben die mittelalterlichen Aspekte von Leben und Tod mit den Gedanken eines Pandemieopfers von heute vermischt.
Jacques: Covid ist ja ein Fliegenschiss im Vergleich zum Schwarzen Tod, der Pestplage im 14. Jahrhundert. Ein Drittel der europäischen Bevölkerung ist daran gestorben. Das ist noch immer unglaublich. Sie haben die Leichen auf der Straße aufgereiht, weil es nicht mehr anders ging.

Ihr lässt euch seit jeher von der Vergangenheit inspirieren und vermischt sie mit gegenwärtigen Strömungen.
Stout:
Wir reden immer über die Dinge, die jetzt gerade passieren. Es ist wie bei Ridley Scott mit „Alien“. Die Science-Fiction spricht aus der gegenwärtigen Lage über die Zukunft und wir nehmen die Vergangenheitsperspektive an und verknüpfen sie mit der Gegenwart.

Für eine provokative und gerne aneckende Band wie die Tiger Lillies muss der Corona-Virus eine besondere Magie entfacht haben.
Stout:
Bei uns geht es oft um Tod und Verzweiflung, also ist dieses Virus wie Ostern und Weihnachten zusammen. (lacht)
Jacques: Es ist ein neues, saftiges Thema, mit dem wir sehr gut spielen können.
Stout: Wir haben das Thema eben eher als Reportage behandelt und sind dann schon wieder weitergegangen. Ich weiß auch nicht, ob die Menschen die Covid-Songs jetzt live hören wollen. (lacht)
Jacques: Normalerweise betrachten wir die Themen eher aus einer historischen Distanz heraus, insofern war der aktuelle Zugang zu Covid für uns sehr interessant. Wir hatten viel Spaß dabei, mit dem Thema herumzuspielen. Bis zur Impfung war ich ziemlich nervös, aber wenn ich jetzt darauf zurückblicke merke ich, dass es auch sehr viel Humoriges mit sich brachte.

Gibt es eigentlich Themen, an denen ihr euch aus diversen Gründen niemals vergreifen würdet?
Jacques:
Muslime. Ich habe keine Lust, mir von so einem feierlichen Glaubensmesser die Kehle durchtrennen zu lassen. (lacht)
Stout: Der Islam ist ein Thema, das uns wenig Raum für Ironie lässt.
Jacques: Covid-19 war schon nicht toll, aber noch schlimmer ist es, wenn dich ein Typ mit einer riesengroßen Machete durch die Straßen jagt. (lacht) Wir schaffen es auch immer noch, Christen auf die Nerven zu gehen, aber sie wollen dich deshalb nicht gleich umbringen.
Stout: Wir bekamen erst letzte Woche einen Brief, in dem wir dafür kritisiert wurden, dass wir Christen angreifen, aber keine Muslime.

Lag das an eurem recht neuen Album „Litany Of Satan“?
Stout:
Nein. Wir haben einen Song namens „Banging In The Nails“. Das Lustige daran ist, dass wir den Track gar nicht spielen wollten, er aber ein Fanwunsch war. Es kommt wohl immer darauf an, wo du so einen Song spielst. In Südamerika kommt er wohl weniger gut an als hier in Westeuropa.
Jacques: Erinnere dich zurück an John Lennon. Als er behauptete, die Beatles wären größer als Jesus - da bekam er sofort die ersten Morddrohungen. Manchmal suchen wir eben die Herausforderung.
Stout: Kindesmissbrauch ist vielleicht auch so ein Thema, auf das wir uns nicht unbedingt stürzen müssen.
Jacques: Aber wir haben doch den Song „Paedophile“ von unserem Album „Cockatoo Prison“. Da geht es um Mörder, Pädophile und Vergewaltiger. Wir wollten die Welt aus deren Perspektive widergeben, so wie eben auch auf dem „Paedophile“-Song. Es geht darum, dass sich der Protagonist schuldig und betroffen fühlt, weil er krank ist und seine Pädophilie ein Horror für ihn ist. So habe ich auf dem Album versucht, die Rollen all dieser Menschen einzunehmen. Ein Typ hat sich einmal von oben bis unten mit Scheiße beschmiert und rannte so zum Bahnhof. Es gibt eine Spezialabteilung bei der Polizei, die einen Ganzkörperanzug für solche Fälle hat. So kommen sie nicht mit den Exkrementen in Berührung. Adrians Vorgänger Phil Butcher, der bis 1995 bei den Tiger Lillies spielte, hat sich immer geweigert, bestimmte Songs zu spielen, die textlich extrem explizit waren. Ich habe es sogar geschafft, Leuten aus meiner eigenen Band auf den Schlips zu treten.

Ist es in einer Welt der grassierenden Political Correctness heute nicht noch leichter als früher, Menschen mit bestimmten Themen zu kränken oder zu verletzen?
Jacques:
Wir haben einen Song namens „Aunty Mabel“, der sich um eine Transperson dreht. Wir spielten ein Konzert in Australien und hatten diesen Song auf der Setlist, als plötzlich eine Transperson entsetzt aus dem Zelt rannte, in dem wir spielten. Sie war komplett außer sich und verärgert. Wir verletzen Leute quer durch alle Bereiche, jetzt sind die sogenannten „Woke-People“ dran. Aber das sind die Tiger Lillies. So war das immer und so wird es immer bleiben.

Auf welche Skandale darf man sich denn im Wiener WUK bei euch freuen?
Stout:
Wir sind komplett nackt. (lacht)
Jacques: Wir machen einfach unser Ding. Wir spielen neue Songs und ich will das Thema Flüchtlinge stärker in den Fokus rücken. Griechenland war und ist stark von der Flüchtlingskrise und der Verzweiflung, den Tränen und dem Überlebenswillen der Menschen konfrontiert. Zudem werden wir Charles Dickens‘ „Christmas Carol“ behandeln, denn da lässt sich die Brücke schlagen zwischen der Flüchtlingskrise von heute, der Flüchtlingskrise in den griechischen Häfen in den 1920er-Jahren und wenn du noch einmal 100 Jahre zurückgehst, hast du die armen Menschen in den Fabriken, die alkohol- und drogenabhängig waren und auch zum „Christmas Carol“-Thema passen. Es geht um die Armut und Hoffnungslosigkeit in unserer Gesellschaft.

Ich bin politisch links, aber mit der modernen Linken habe ich wenig am Hut. Ich bin eher ein alter, internationaler Sozialist. Die Art der Immigration von heute verstehe ich nicht. Wollen wir, wie man es in Berlin schon sieht, wirklich in jedem Park unzählige Drogenhändler haben? Das wird von den heutigen Linken unterstützt und das ist nicht meine Welt. Die Linke heute ist sehr gesplittert und Leute wie Trump oder Putin haben zur Zerstörung der Sozialisten stark beigetragen. Die heutigen Linken sind für mich fast genauso schlimm wie die Rechten.

Live in Wien
Die Tiger Lillies gibt es diesen Sonntag, 24. Oktober, live im Wiener WUK zu sehen. Weitere Österreich-Auftritte sind derzeit noch nicht geplant. Karten für das Event gibt es unter www.oeticket.com oder an der Abendkassa vor Ort.

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