Patenschaften

Ein Stück Normalität für geflüchtete Jugendliche

Tirol
11.03.2019 08:00

Viele waren noch Kinder, als sie sich auf den Weg gemacht haben. Vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt. Als sie ankamen waren sie Jugendliche. Dazwischen liegen Krieg, Traumata und der Tod. In Tirol leben derzeit 60 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Durch das Projekt „Ertebat“ können manche wieder ein bisschen Kind sein. Zumindest für einen Moment, oder zwei.

Bevor Riaz und Bernhard Fragen beantworten, schauen sie sich immer einen Moment lang an und kichern. „Ja, was machen wir denn eigentlich so?“, fragt Bernhard und denkt kurz nach. „Spazieren gehen, Ski fahren und viel Cappuccino trinken“, antwortet Riaz und ergänzt strahlend: „Ich liebe Cappuccino!“

Das neue Zuhause kennenlernen
Riaz ist 16 Jahre alt, hat in Tirol ein neues Zuhause gefunden. Bernhard ist 45 Jahre alt und hat in Tirol schon immer sein Zuhause - nun bringt er es seinem Schützling näher. Der 45-jährige Tiroler hat sich bei „Ertebat“ als Pate gemeldet. Vier Schulungen hat er absolviert und eine Vorstellung geschrieben, bevor er und Riaz „gematcht“ wurden, wie man so schön auf Neudeutsch sagt. Die Jugendlichen stellen sich ebenfalls vor, in einem Brief, einem Video oder in Form von Zeichnungen. Jutta Binder, Projektleiterin von „Ertebat“, stellt dann die Verbindung zwischen ihnen her.

Blicke in neue Welten und Abbau von Vorurteilen
„Ziel des Projekts ist die Bildung von Freundschaften und Netzwerken zwischen Paten und Jugendlichen“, schildert sie. Im Fall von Bernhard und Riaz scheint das geklappt zu haben. Beide lassen den jeweils anderen in seine Welt schauen. „Ich habe von Riaz gelernt, wie wissbegierig, freundlich und zuvorkommend die Jugendlichen sind“, sagt Bernhard. Im Gegenzug schenkt er dem 16-Jährigen ein bisschen ganz normale Freizeit.

Kurz durchatmen dürfen
„Die Jugendlichen befinden sich meist noch in ihrem Asylverfahren. Warten auf das Interview, wissen nicht, dürfen sie bleiben oder nicht. Dazu kommt die neue Sprache, die gelernt werden muss“, schildert Binder. Zudem haben die meisten vor und während ihrer Flucht schier Unglaubliches erlebt. Das ist insgesamt natürlich ein ungeheurerer Stress - umso schöner ist es dann, mal kurz auf Skiern zu stehen und den Kopf ausschalten zu dürfen. „Ski fahren will ich unbedingt wieder gehen“, sagt Riaz. Bernhard ist Skilehrer - das „Match“ hat also gut funktioniert.

Gemeinsame Unternehmungen
„Am Anfang haben die Leute schon geschaut“, erzählt Bernhard, „mittlerweile nehme ich das aber gar nicht mehr wahr.“ Die Motivation für sein freiwilliges Engagement fand der Innsbrucker in seiner 13-jährigen Tochter. „Die beiden haben sich auch schon getroffen und verstehen sich gut“, freut er sich. In der Regel sind die Treffen mit seinem Paten aber meist „exklusive Herrenveranstaltungen“, wie er schildert. Fußball zuschauen etwa. Oder Cappuccino trinken. „Den liebe ich wirklich sehr“, sagt Riaz und lacht wieder.

Kinder auf der Flucht

  • Eine geraume Anzahl von Menschen auf der Flucht ist minderjährig. Sie fliehen oft ohne Eltern oder andere obsorgeberechtigte Personen. Man spricht von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (umF).
  • Die Obsorge und deren Rechtsvertretung im Asylverfahren liegt beim Fachbereich umF der Kinder- & Jugendhilfe.
  • Die Unterbringung und Betreuung erfolgt in Wohngruppen, die von den Tiroler Sozialen Diensten, dem Roten Kreuz, SOS Kinderdorf, Verein menschen.leben und Gemeinsam Wohnen und Leben betrieben werden. Eine Unterbringung bei Pflegefamilien ist auch möglich.
  • Unmündige umF (unter 14 Jahre) werden in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe versorgt.
  • Für die Betreuung und Begleitung von umF, die volljährig geworden sind, wurde ein mobiles Team eingerichtet. In die Zielgruppe fallen junge Erwachsene von 17,5 bis 21 Jahre.

Die „Kupplerin“ hinter dem Projekt
Jutta Binder ist Projektleiterin bei „Ertebat“ und erfolgreiche „Kupplerin“ von über 30 Patenschaften. Im Interview spricht sie über den Kern des Projekts und viele neue Freundschaften.

Seit wann gibt es das Projekt „Ertebat“ denn?
Das Projekt wurde im Jahr 2016 von der Plattform Asyl initiiert. Seither sind daraus 35 laufende Patenschaften entstanden.

Wie wird es finanziert?
Die Paten sind alle ehrenamtlich tätig. Die Schulungen, Organisation und Bürokratie, die dahinter steckt, wird von der Kinder- und Jugendhilfe des Landes Tirol finanziert. Für heuer ist das gesichert, nächstes Jahr müssen wir wieder einen neuen Förderungsantrag stellen.

Wie wird man Pate?
Zu Beginn gibt es ein Beratungsgespräch. Wichtig ist, dass die Patin längerfristig in Tirol ist. Denn ein erneuter Beziehungsabbruch wäre für die Jugendlichen nicht zielführend. Sind die ersten Fragen geklärt, gibt es eine Schulung. Dort gibt es etwa Einblicke in das Asylverfahren oder Berichte der Einrichtungsleiter. Ist die Schulung abgeschlossen, stellen sich Jugendliche und Paten in einem Brief oder Video kurz vor. Ich stelle dann die Verbindung her.

Wie werden die Patenschaften „gematcht“?
Aufgrund der Vorstellungen schaue ich, wer zusammen passt. Außerdem lerne ich die Paten ja in den Schulungen kennen und auch mit den Jugendlichen spreche ich im Vorfeld.

Was ist, wenn sich ein Paar gar nicht versteht?
Wenn etwas nicht funktioniert, dann muss man es auch nicht erzwingen. In dem Fall kann man schauen, ob es vielleicht eine passendere Verbindung gibt und es erneut versuchen. Zum Glück passiert das aber sehr selten. In den meisten Fällen entstehen tolle Freundschaften.

Unterstützen Paten die Jugendlichen finanziell?
Nein. Es geht darum, einfach gemeinsam Zeit zu verbringen. Die Paten sind weder für das Finanzielle noch Bürokratische zuständig. Wenn das von beiden Seiten gewünscht ist, kann man natürlich gemeinsam lernen. Aber Kern des Projekts ist es, mit den Jugendlichen ein Stück weit einfach ein bisschen den ganz normalen Alltag zu teilen.

Wann finden die nächsten Schulungen statt?
Wir starten im April einen neuen Block und freuen uns natürlich über neue Patinnen und Paten.

Weitere Infos unter: http://plattform-asyl.eu/projekte/patenschaft-ertebat/

Anna Haselwanter
Anna Haselwanter
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