Nikolaus Harnoncourt

Abschied von einem revolutionären Geist

Steiermark
06.03.2016 18:10

Er hat unsere Sicht auf Musik und Kunst radikal in Frage gestellt, er hat die Tür zu neuen Wegen der Interpretation aufgestoßen, er gönnte sich den Luxus bedingungsloser künstlerischer Integrität. Nun ist die Bestürzung groß. Nikolaus Harnoncourt ist im Alter von 86 Jahren verstorben. Die Welt verliert eine ihrer größten Musikerpersönlichkeiten, einen Zweifler und Mahner und großen Prediger für die Wichtigkeit von Kunst.

Das letzte Mal, dass ich Nikolaus Harnoncourt im Konzert erleben konnte, war im Juli 2015 in der Pfarrkirche Stainz. Er hatte das "styriarte"-Publikum zu einer seiner vielen Entdeckungsreisen ins 18. Jahrhundert mitgenommen: Anhand einer Messe und einer Symphonie von Joseph Haydn erzählte Harnoncourt eine Geschichte über Menschen. Menschen, die zwar im 18. Jahrhundert gelebt hatten, uns aber in Wahrheit so nah und vertraut sind - in ihrer Furcht, ihrer Verzweiflung, aber auch ihrer Liebe zu Witz und Humor.

Es war Harnoncourts Anliegen, das Alte als Gegenwart zu begreifen, Musik nicht bloß als hübschen Zeitvertreib zu verstehen, sondern als essenzielle Aussage über das Menschsein. "Es ist ein Paradox, dass wir heute mengenmäßig viel mehr Musik haben als je zuvor, dass sie aber für unser Leben fast nichts bedeutet", schrieb Harnoncourt 1985 im ersten Programmheft der "styriarte". Sein ganzes Leben hat er dem Kampf gewidmet, die Bedeutung von Kunst deutlich zu machen.

Auf völlig neuen Wegen zur Alten Musik
Der am 6. Dezember 1929 in Berlin geborene Harnoncourt verbrachte seine Kindheit in Graz, im meist schlecht geheizten Palais Meran, wo heute die Kunstuniversität residiert. Nachdem er relativ ernsthaft gewälzte Pläne, Puppenspieler zu werden, wieder verwarf, wandte er sich ganz der Musik zu. Seine Berufslaufbahn begann mit 18 Jahren als Cellist bei den Wiener Symphonikern. Weil der junge Orchestermusiker es bald nicht aushielt, wie oberflächlich der Klassikbetrieb mit der geliebten Musik umsprang, wurde er schnell zum Forscher, der sich in den Bibliotheken und Archiven in die Quellen vergrub.

1953 gründete er mit Ehefrau und Lebensmenschen Alice das Ensemble Concentus Musicus Wien, um die Resultate der Forschungsarbeit Klang werden zu lassen. Im Laufe der Sechziger avancierte Harnoncourt so zu einem der Pioniere der historisch informierten Aufführungspraxis, der "Originalklangbewegung", die zuerst das Bild von Barockmusik völlig veränderte. Diese Revoluzzer fegten die spätromantische Patina, die sich über die Interpretation von Bach und Händel gelegt hatte, hinweg. Harnoncourt wurde zum oft angefeindeten Bilderstürmer, bei dem Musik "Klangrede" war und nicht Sounddesign. Er wollte Musik, die spricht, die schreit, die agitiert, betört, berührt, kurz, die etwas mitteilen will und die nicht bloß in Wohlklang einlullt. Musik wurde von ihm niemals als dienstbarer Geist, sondern immer als Störenfried verstanden.

Immer wieder Neuland
Harnoncourts Konzerte durchlüfteten die Klassikwelt, er selbst wagte sich historisch immer weiter vor, landete bei Mozart, bei Beethoven. Für die "styriarte" erarbeitete er einen epochalen Zyklus der Beethoven-Symphonien und -Konzerte, es folgten die Romantiker Schubert und Schumann, schließlich auch Brahms, Bruckner, Verdi, Bizet, Bartók, Berg, Gershwin und nicht zuletzt Johann Strauß. Auch die Offenheit und der Mut, immer Neuland zu betreten, machten ihn aus.

Langer Kampf um Anerkennung
Als Interpret und Musikdenker genoss Harnoncourt weltweit Ansehen, zwei Mal (2001 und 2003) luden ihn die Wiener Philharmoniker auf den Dirigier-Olymp unserer Zeit (an ihr Pult beim Neujahrskonzert). Doch der Querkopf musste lange um breite Anerkennung ringen. Erst mit 54 Jahren debütierte er am Pult der Wiener Philharmoniker. Auch in Salzburg war lange kein Platz für ihn: Mit 65 Jahren gab er sein Operndebüt bei den Festspielen.

Sein widerständiger Geist, seine Maxime, den eigenen Verstand zu gebrauchen, bescherten nicht nur einige großartige Bücher über Musik, sondern machen ihn auch zum Mahner und Zweifler. Dieser Zweifel machte nicht zuletzt seine Kunst groß: Es wurden keine letztgültigen, "ewigen" Wahrheiten propagiert, weil es solche nie geben kann. "Ja und Nein sind ja fast das Gleiche", meine er in paradoxer Zen-Manier einmal. Hier war ein Kunstwille am Werk, der den Zweifel an der eigenen Behauptung mitdenkt, dem es nie um absolute Wahrheit, sondern um individuelle Wahrhaftigkeit gegangen ist. Das Predigthafte seiner Aussagen ist erst in diesem Licht des Zweifelns verstehbar.

Als seine Kunst immer radikaler wurde
In den letzten Lebensjahren, als gefeierter Weltstar, gesundheitlich angeschlagen, wurde Harnoncourt immer radikaler in der Kunst. Für die "styriarte" kreierte er beeindruckende Ereignisse, alles, was er angriff, wurde zum Welttheater. In jedem einzelnen Moment schien es um alles zu gehen. Als Mensch wurde er immer milder und begann sogar, den Kopf auch einmal aus den Partituren zu nehmen und, wie der alte Voltaire, zu gärtnern.

Mit einer schlichten Mitteilung vermeldeten seine Angehörigen das Ableben des Jahrhundertkünstlers: "Am 5. 3. 2016 ist Nikolaus Harnoncourt friedlich im Kreis seiner Familie entschlafen. Trauer und Dankbarkeit sind groß. Es war eine wunderbare Zusammenarbeit. Alice Harnoncourt und Familie."

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