Kritik an Erdogan

Österreichs Türken befürchten einen "Bürgerkrieg"

Österreich
02.04.2017 07:55

In Österreich lebende Türken, die die Politik von Recep Tayyip Erdogan ablehnen, sprechen jetzt in der "Krone" über die zunehmende Radikalisierung ihrer Landsleute und die mittlerweile furchterregenden Zustände in ihrer Heimat.

Vor wenigen Tagen in einem Vortragsraum in Wien-Favoriten: Etwa 150 in Österreich lebende Türken sitzen eng aneinandergedrängt auf schmalen Sesseln und hören gespannt den Rednern vorne am Pult zu. Einem Abgeordneten der sozialistischen CHP-Partei und einem Anti-Erdogan-Aktivisten. Die beiden Männer berichten fürchterliche Dinge aus der Heimat. Sie sprechen über das Referendum, über Bespitzelungsaktionen und den drohenden Untergang ihres Landes.

"Jede Stimme gegen den Präsidenten ist wichtig"
Die Besucher der Veranstaltung kämpfen für demokratische Verhältnisse in der Türkei. Aber in Wahrheit wissen sie, dass sie diesen Kampf längst verloren haben. "Erdogan", befürchten sie, "wird die Abstimmung gewinnen. Wenn nicht mit Stimmen, dann durch Manipulation. Wie schon bei Wahlen früher." Die Folge wäre "ein völliges Chaos. Ein Bürgerkrieg, der sich auf halb Europa ausbreiten könnte."

"Viele in Österreich lebende Türken sind zunehmend dabei, sich zu radikalisieren", erzählt Tahsin Tekin (23), Politikwissenschaftsstudent und CHP-Jugendvertreter. Bei Aufklärungskampagnen in der Gegend um den Brunnenmarkt würde er mittlerweile regelmäßig von Landsleuten attackiert, nicht bloß mit Worten: "Sie kündigen mir sogar körperliche Gewalt an."

"Sogar Seifenopern sind voll mit Propaganda"
Schauplatzwechsel. Eine Kleinstadt in Niederösterreich. Sena A. (30), von Beruf Hausverwalterin, ist vor zwölf Jahren mit ihren Eltern von Istanbul hierher ausgewandert: "Weil meine Familie bereits damals begriff, dass Erdogan dabei war, einen entsetzlichen Weg einzuschlagen."

Die in der Türkei verbliebenen Verwandten "tun mir schrecklich leid". Universitätsprofessoren, Staatsanwälte, Richter, Polizisten seien darunter: "Sie sind jetzt joblos." Wegen ihrer offenen Kritik an der AKP: "Eine freie Meinungsäußerung ist in meiner Ex-Heimat nicht mehr möglich." Egal, ob soziale Netzwerke, SMS oder Telefonate, "die Überwachung funktioniert perfekt. Schon ein böses Wort über Erdogan kann zu einer Verhaftung führen. Bei der Kommunikation mit meinen Angehörigen muss ich daher sehr vorsichtig sein."

Über absurde Geschehnisse berichtet auch Kemal G., Wirtschaftsstudent. "Dass ich gegen den Präsidenten bin, hat mich fast alle meine Freunde gekostet", klagt er: "In dem Ort, in dem ich geboren wurde, und in Österreich. Mir kommt vor, als wäre bei den meisten meiner Landsleute eine Gehirnwäsche passiert. Das Hauptproblem ist, dass der Großteil von ihnen ausschließlich türkische Medien konsumiert. Und die sind ja von Erdogan kontrolliert. Sogar über Talk-Shows und Seifenopern wird seine fürchterliche Propaganda transportiert, von Nachrichtensendungen und den politischen Teilen in Zeitungen ganz zu schweigen."

"So wurde die Türkei zu einem Gottesstaat"
Wie es zu derartigen Zuständen kommen konnte, erklärt der 28-Jährige an dem Beispiel einer seiner Cousins: "Er stammt aus armen Verhältnissen, besuchte eine von Erdogan gegründete Religionsschule, bekam dort von klein an ein altertümliches, schwer islamistisches Weltbild eingebläut und erhielt später, zum Dank für sein 'auf Linie' sein, einen gut dotierten Staatsposten."

Aber die "anderen", die Menschen, die eine moderne Türkei wollen - warum erkannten sie die Zeichen nicht rechtzeitig? "Weil es ihnen lange Zeit hindurch möglich war, in ihren Vierteln ein total normales Dasein zu führen." Partys in noblen Clubs zu feiern, in großen Shopping-Centern einzukaufen: "Da haben sie vieles gerne verdrängt."

"Kritiker verschwinden in Gefängnissen"
"Selbst heute noch", sagt Cebrail D., "ist in der Gegend von Izmir, wo ich aufgewachsen bin, kaum etwas von Diktatur zu spüren. Trotzdem sind die Leute vorsichtig geworden. Nur zu Hause, und nur im Kreise von Vertrauten, wird über die Gefahr, die von Erdogan ausgeht, gesprochen."

Denn die Zahl der Verräter steige ständig "und damit die Zahl der Festnahmen. Einige meiner Bekannten verschwanden bereits in Gefängnissen." In ihre Heimat will die 24-Jährige nach Abschluss ihres Studiums nicht zurückkehren: "Weil es dort leider keine Zukunft für mich gibt."

Martina Prewein, Kronen Zeitung

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