Das freie Wort

Zeitzeugen

Bald gibt es keine Zeitzeugen mehr, die über den Wahnsinn der Nazis aus erster Hand berichtet können. Bald gibt es niemand mehr, der die schrecklichen Erlebnisse der damaligen Zeit uns direkt vor Augen führen kann. Dieses Band zur Vergangenheit wird in kurzer Zeit endgültig gekappt worden sein. Niemand wird mehr da sein, der aus erster Hand erzählt, dass es nicht mit Konzentrationslagern angefangen hat, sondern mit Rassismus, mit Ausgrenzung, mit Dehumanisierung, mit spezifischer Gesetzgebung, mit Sozialdarwinismus, mit Nationalismus, mit Blut- und Bodenpolitik. Erst diese toxischen Ingredienzien haben dafür gesorgt, dass der Vernichtungskrieg und der Massenmord erst möglich wurden. Und genau diese Zeitzeugen können wie niemand anderer darüber berichten, dass die Nazis nicht nur irgendein abstraktes Konstrukt waren, sondern sich direkt im konkreten Denken und Handeln von vielen widerspiegelten. Die SS-Wachen waren keine ferngesteuerten Marionetten, die SA-Schergen keine Roboter, die Mitläufer, die Beamten, die Soldaten, alle, die das erst möglich gemacht haben, waren nicht durch irgendeine fremde Macht verzaubert. Es waren Menschen wie du und ich in ihrer konkreten Existenz, die alles mitmachten. Genauso wie die Zeitzeugen die konkrete Existenz der Opfer darstellen. Sie sind die Personifizierung der Millionen, der abstrakten Zahlen, die man kaum fassen kann. 6 Millionen wurden damals industriell ermordet. Das sind fast 3/4 der Einwohner Österreichs. Es ist kaum fass- und erfassbar. Aber die Zeitzeugen, wenn sie hier in ihrer konkreten Existenz vor uns stehen, stehen auch als Vertreter der 6 Millionen Ermordeten. Sie geben ihnen noch heute eine Stimme, ein Gesicht. Sie machen das eigentlich Unfassbare fassbar. Sie können die damaligen Ereignisse aus der Sicht des Einzelnen, konkret Existierenden darstellen. Sie können uns helfen zu verstehen, dass diese 6 Millionen 6 Millionen Menschen, 6 Millionen Existenzen, 6 Millionen Schicksale waren, wie es jeder von uns sein könnte. Sie hel-fen uns, sich dem Unvorstellbaren so nahe wie nur irgendwie möglich zu nä-hern. Sie können uns erzählen, dass die Nazis nicht von etwas Abstraktem vertrieben wurden. Sie können uns erzählen, dass erst die militärische Niederlage die Nazis besiegte. Sie sind es maßgeblich, die die Mystifizierung des Naziwesen, das so abstrakt erscheint, aufheben, um die Banalität der Handelnden zu entlarven. Diese Zeitzeugen werden bald gegangen sein. Es liegt dann an uns, ihre Arbeit fortzuführen. Ich hoffe, dass wir dabei nicht versagen. Sicher bin ich mir dabei allerdings nicht.

Andreas Laszakovits, per E-Mail

Erschienen am Mo, 27.1.2020

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